Versuchen wir uns dieser Frage mit Schätzungen anzunähern: Aktuell gehen wir davon aus, dass in Deutschland rund 11 Millionen Menschen mit Diabetes leben. Darunter sind etwa 8,7 Millionen Menschen mit einem diagnostizierten Typ-2-Diabetes und 372.000 mit Typ-1-Diabetes. Genaue Daten darüber, wie viele der pflegebedürftigen Menschen an Diabetes erkrankt sind, liegen nicht vor, der prozentuale Anteil dürfte aber höher sein, denn es ist bekannt, dass Diabetes zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen kann, die eine Pflegebedürftigkeit bedingen oder verstärken. Zudem steigt das Risiko für Pflegebedürftigkeit mit zunehmendem Alter, und da Diabetes insbesondere bei älteren Menschen häufig auftritt, ist davon auszugehen, dass ein signifikanter Anteil der pflegebedürftigen Personen auch an Diabetes leidet.
Davon ausgehend, dass es Ende 2023 5,7 Millionen Menschen mit Anspruch auf Pflegeleistung in Deutschland gab und dass diese Gruppe überwiegend – wie auch bei Diabetes – aus über 65jährigen besteht und Diabetes im Alter je nach genauer Gruppe gemessen in 25-30% der Fälle vorliegt, kann man – wieder nur hochgerechnet – von etwa 1,4 Millionen pflegebedürftigen Menschen mit Diabetes ausgehen.
Basierend auf Stichprobenuntersuchungen sind vermutlich 30-40% dieser Menschen insulinpflichtig, bei einer eher konservativen Abschätzung würde dies 420.000 pflegebedürftigen und insulinpflichtigen Menschen mit Diabetes ergeben. Sollte diese Schätzung stimmen, wäre diese Patientengruppe größer als die Anzahl von Menschen mit einem Typ-1-Diabetes insgesamt in Deutschland! Dies werden primär Menschen mit einem Typ-2-Diabetes sein, es wird aber auch Menschen mit einem Typ-1-Diabetes geben, die eben jetzt alt geworden sind (5% = 21.000?). Vielleicht wird ja die Einführung und Nutzung der ePA zuverlässigere und genaueren Daten liefern.
In diesem Zusammenhang gibt es einige Fragen:
- Wer pflegt diese Menschen, Familienangehörige?
- Kommt bei allen mehrmals am Tag der Pflegedienst?
- Wer macht die Glucosekontrolle bei diesen Menschen und wie ist die Güte?
- Wie lässt sich die langfristige Güte der Glucosekontrolle von akuten Entgleisungen differenzieren?
- Wie und womit werden diese Menschen behandelt? Wer versorgt sie mit Insulin?
- Welche Kosten verursacht diese Patientengruppe, wann man den Gesamtaufwand für die Pflege, Medikament etc. bedenkt?
Unser Versuch, gerade zu dem letzten Punkt Informationen von den Krankenversicherungen zu bekommen, war nicht erfolgreich. Die verschiedenen Kassen (immer noch 95 in der BRD) sind intern organisatorisch in verschiedene Bereiche aufgetrennt und es scheint eine komplexe Anforderung zu sein, die bei der Pflege anfallenden Kosten zusammenzuaddieren.
Tatsächlich gibt es viele Gründe, warum ältere, pflegebedürftige Menschen mit Diabetes in der Forschung und Praxis oft unterrepräsentiert sind: Die meisten Studien zu Diabetes betreffen jüngere oder mittelalte Erwachsene, ältere Menschen werden kaum berücksichtigt. Häufig liegt der Fokus auf der Prävention, Früherkennung oder dem Langzeitmanagement bei Patienten, die noch selbstständig leben können. Pflegebedürftige ältere Menschen stehen dabei weniger im Fokus und werden auch nicht in klinische Studien einbezogen. Ältere Menschen leiden zudem oft unter mehreren chronischen Erkrankungen (Multimorbidität). Es ist deshalb schwierig, Diabetes isoliert zu betrachten, da andere Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Probleme, Demenz oder Niereninsuffizienz ebenfalls eine Rolle spielen und die Therapie beeinflussen.
Pflegeeinrichtungen oder private Pflegehaushalte erfassen Gesundheitsdaten nicht systematisch oder geben diese nicht in überregionale Datenbanken weiter. Dies führt zu einer lückenhaften Datengrundlage. Auch richtet sich die Standardtherapie für Diabetes nach allgemeinen Leitlinien, die für jüngere oder selbstständig lebende Patienten entwickelt wurden. Für pflegebedürftige ältere Menschen fehlen angepasste Konzepte, die z.B. Faktoren wie Ernährungsstatus, Bewegungsmangel oder die Medikamentenverträglichkeit berücksichtigen. Last but not least fehlt es an ausreichendem Pflegepersonal. Die Qualität und Art der Pflege beeinflussen aber den Krankheitsverlauf bei älteren Menschen mit Diabetes erheblich.
In einer alternden Gesellschaft, in der immer mehr Menschen Pflegebedarf haben werden – also auch wir – benötigen wir gezielte Studienprogramme, die speziell auf die Bedürfnisse und Einschränkungen älterer Menschen ausgerichtet sind. Auch der Aufbau von Pflegedatenbanken mit systematischer Datenerfassung, die in Pflegeeinrichtungen oder durch Hausärzte gesammelt werden, ist notwendig, um den Krankheitsverlauf und die Therapieerfolge besser dokumentieren zu können. Dabei könnte eine zentrale digitale Vernetzung helfen, um Daten aus verschiedenen Pflegeeinrichtungen und Gesundheitssystemen zusammenzuführen.
Wir brauchen Diabetes-Schulungen für Pflegekräfte, die speziell darin geschult werden, mit der Krankheit umgehen zu können. Themen wie die richtige Ernährung, Blutzuckerkontrolle, Fußpflege und Medikamentengabe spielen dabei eine wichtige Rolle. Solche Schulungen könnten auch helfen, diabetische Notfälle wie Unter- oder Überzuckerungen frühzeitig zu erkennen und angemessen zu reagieren. Und wie sonst auch würde der Einsatz moderner Technologien wie Telemedizin und Fernüberwachung helfen: Blutzuckerwerte und Vitalzeichen könnten regelmäßig über Telemedizin- und Monitoring-Geräte überwacht werden und Pflegekräfte könnten schneller auf Veränderungen reagieren. Apps, die Pflegekräfte und Patienten unterstützen, z.B. bei der Medikamenteneinnahme oder Dokumentation, könnten ebenfalls die Versorgung verbessern.
Last but not least gilt auch hier die Vernetzung zwischen verschiedenen Fachrichtungen: Die Zusammenarbeit zwischen Diabetologen, Geriatern, Hausärzten und Pflegeeinrichtungen muss verbessert werden. Ein interdisziplinäres Team wäre viel besser in der Lage, verschiedene Aspekte der Versorgung (medizinisch, pflegerisch, psychologisch) dieser beachtlich großen Patientengruppe zu koordinieren.
Fazit: Offenbar gibt es eine Patientengruppe, die zu einem erheblichen Teil durch die üblichen Raster fällt, keiner fühlt für diese richtig zuständig. Es fehlt an Lobbyarbeit und öffentlichem Druck für eine bessere Forschungsförderung und es braucht definitiv mehr Forschung und ein besseres Verständnis für diese spezielle Gruppe.
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