Herzlich willkommen beim diatec-weekly,
alternativlos! So hätte der Titel des Buchs auch lauten können, das vergangene Woche von unserer ehemaligen Kanzlerin Angela Merkel vorgelegt wurde. Das Buch trägt aber den Titel „Freiheit“ und das mit der Alternativlosigkeit haben auch nicht wir uns ausgedacht, sondern es stammt von einem klugen Redakteur der FAZ. Trotzdem ist der Begriff spannend genug, um sich einmal etwas intensiver damit zu beschäftigen.
Nicht verhandelbar, unabwendbar, kein Weg führt daran vorbei – all das sind Begriffe, die bemüht werden, wenn es darum geht, eine Entscheidung als unausweichlich darzustellen. Das gilt in einem besonderen Maße in der Politik: Ob in der Finanzkrise, bei militärischen Interventionen oder in der Klimapolitik – das Wort alternativlos signalisiert: Es gibt keinen Plan B. Diese Rhetorik soll Dringlichkeit, Stärke und den Anspruch auf ungeteilte Unterstützung vermitteln. Was aber wie ein Ausdruck von Klarheit und Entschlossenheit klingt, ist in Wahrheit eine Absage an Debatten, an Kreativität und an einer Vielfalt der Möglichkeiten. Alternativlos suggeriert, dass eine Entscheidung ohne Alternative ist und das ist eine recht bequeme Sichtweise, die nicht nur die Demokratie, sondern auch das gesellschaftliche Zusammenleben auf die Probe stellt.
Wir haben Alternativlosigkeit gesehen bei den Rettungspaketen in der Eurokrise, die, um die Stabilität des Euros zu sichern, als essenziell dargestellt wurden, und bei der Bankenrettung während der Finanzkrise 2008, als staatlicherseits umfangreiche Rettungsprogramme ausgerechnet die Unfähigkeit und Maßlosigkeit der Finanzleute belohnt haben. Alternativlos waren auch die Entscheidungen in der Flüchtlingskrise 2015, als die Grenzen geöffnet wurden und trotz schleppender Integration unkontrolliert viele Menschen in unser Land kamen, außerdem während der Lockdowns in der Pandemie, als Kontaktbeschränkungen als „alternativlos“ bezeichnet wurden und wir sehen es heute in der Klimapolitik, wo die Energiewende oder die CO₂-Bepreisung als zwingend notwendig gelten, ohne dass es ernsthafte Diskussionen über alternative Wege gibt.
Auch außerhalb der Politik wird der Begriff „alternativlos“ gerne genutzt, um als unausweichlich dargestellte Entscheidungen oder Situationen zu rechtfertigen. Unternehmen erklären den Abbau von Arbeitsplätzen oder das Verlegen von Produktionsstandorten als „alternativlos“, weil Kosten gesenkt und die Rendite erhöht werden sollen oder auch, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Alternativlos ist die Einführung automatisierter Prozesse, selbst wenn dadurch Arbeitsplätze verloren gehen oder soziale und ethische Folgen ignoriert werden und sie greift tief in den privaten Bereich hinein, z.B. bei der Erziehung oder der Berufswahl der Kinder – wenn du was werden willst, musst du studieren – und selbst in der Liebe wird das Ende oder die Fortführung einer Beziehung häufig mit „Es ging nicht anders“ gerechtfertigt. Dabei kann der Satz auch eine stille Kapitulation vor den Umständen sein und Angst vor Unsicherheit und Veränderung widerspiegeln.
Ist Alternativlosigkeit also nur ein bequemer Deckmantel? Ein rhetorisches Instrument, um Widerspruch im Keim zu ersticken? Es gibt fast immer Alternativen, mögen sie auch unbequem, kostenintensiv oder riskant sein und es kann sich durchaus lohnen, in vermeintlich unausweichlichen Situationen einfach mal innezuhalten und nach kreativen Lösungen zu suchen. Die Geschichte hat uns immer wieder gezeigt, dass vermeintlich alternativlose Situationen durch Mut, Innovation und neue Perspektiven aufgebrochen werden können. Was gestern noch als unumstößlich galt, ist heute überholt. Soziale Bewegungen wie die Frauenrechtsbewegung oder die Emanzipation der LGBTQ+-Community sind gute Beispiele dafür, dass Alternativen nicht nur möglich, sondern auch notwendig sind.
Eine echte Demokratie lebt vom Wettstreit der Ideen und der Fähigkeit, verschiedene Wege abzuwägen. Alternativen eröffnen nicht nur Wahlmöglichkeiten, sondern stärken auch den Zusammenhalt. Sie zeigen, dass kein Einzelner oder keine Gruppe den alleinigen Anspruch auf die Wahrheit hat. Wir alle, unsere Gesellschaft und unsere Demokratie, brauchen Alternativen. Wir brauchen Menschen, die bereit sind, neue Wege zu denken und mutig zu handeln. Wer den Mut hat, Alternativen zu suchen, kann etwas verändern – sei es im Großen der Politik oder im Kleinen des eigenen Lebens. Alternativlos begrenzt unser Denken und leugnet die Vielfalt menschlicher Möglichkeiten. In diesem Sinne ist es zwar bequem, aber gefährlich, denn Alternativen sind immer vorhanden, auch wenn sie nicht immer offensichtlich sind.
Nun zu den Themen der Woche und wir berichten brandaktuell von embecta, die ihre Pumpe erst gar nicht auf den Markt bringen wollen, dann stellen wir eine Studie zu Sport und der Angst vor Hypoglycämien vor und zum Schluss geht es um eine Indikationserweiterung bei CGM. Auf geht’s!
Im Februar diesen Jahres erst haben wir sie hier im weekly vorgestellt. Im Sommer hat sie die Zulassung der FDA erhalten und jetzt irgendwann sollte sie auf den Markt kommen – die Patch-Pumpe von embecta, gedacht für Menschen mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes. Sie verfügt über ein Insulinreservoir für 300 Einheiten, was ein Wettbewerbsvorteil sein dürfte. Nun aber wird die weitere Entwicklung überraschenderweise eingestellt und die Pumpe wird erst gar nicht auf den Markt kommen:
Embecta stellt Entwicklung seiner Insulin-Patch-Pumpe ein
Am Dienstag dieser Woche gab embecta bekannt, sein Insulin-Patch-Pumpen-Programm einzustellen und das wenige Monate nach Erhalt der FDA-Zulassung. Als Begründung wird ein wenig fadenscheinig genannt, dass man nicht vorhabe: „…dieses Produkt vollständig auf den Markt zu bringen“, so CEO Dev Kurdikar zu Investoren und weiter: „Die Entscheidung, das Pumpenprogramm einzustellen, mag überraschend kommen. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass wir nicht beabsichtigten, dieses Produkt auf dem gesamten Markt einzuführen, da das derzeit zugelassene Open-Loop-Produkt zusätzliche Änderungen erfordert, um kommerziell wettbewerbsfähig zu sein, darunter eine Verlängerung der Haltbarkeitsdauer des Produkts sowie Verbesserungen in Form der Kompatibilität des Geräts aus der Bring-Your-Own-Device-Perspektive.“
Der EASD ist zwar schon eine Weile her, aber es gibt noch eine interessante Studie, die dort präsentiert wurde: Es geht um Angst vor Hypoglycämien und den möglichen Verlust der Glucosekontrolle, was offenbar die größten Hindernisse für körperliche Aktivität beim Patienten mit Typ-1-Diabetes darstellen. Eine weitere Studie zeigte Fallbeispiele nach der Teilnahme an einem Marathon:
Sport und die Angst vor Hypoglykämien bei T1
Es gibt schon eine Reihe von früheren Studien, die die Hindernisse für körperliche Betätigung bei Patienten mit Typ-1-Diabetes untersucht haben, allerdings hatten die meisten eine geringe Stichprobengröße. Farrell und Kollegen von der britischen Universität Dundee sahen deshalb Bedarf für eine größere Studie, um das Wissen und die Barrieren für körperliche Aktivität bei erwachsenen Patienten und die damit verbundenen prädiktiven Faktoren zu untersuchen (Abstract LBA56).
Der Einsatz von CGM-Systemen kann auch bei Prädiabetes hilfreich sein. Das gilt insbesondere für Menschen, die proaktiv ihren Lebensstil anpassen möchten oder bei denen die Gefahr besteht, dass Prädiabetes in Typ-2-Diabetes übergeht. Grundsätzlich sollte dies natürlich in Absprache mit einem Arzt oder Diabetesberater eingesetzt werden, um Überinterpretationen oder unnötige Kosten zu vermeiden:
Prädiabetes als Indikationserweiterung bei CGM?
CGM hat das Potenzial, persönliche Ernährungsinterventionen geeignet zu steuern, was eine erhebliche Bedeutung haben kann, weltweit könnte damit bis zu einem von fünf vorzeitigen Todesfällen verhindern werden. Dies sagte David Kerr aus Santa Barbara beim diesjährigen Diabetes-Technology-Meeting, als er über die Nutzung von CGM zur Vorbeugung von Prädiabetes und Typ-2-Diabetes bei Risikogruppen referierte. Der positive Effekt liegt dabei in der „Ernährungsüberwachung“, so Kerr und hob dabei die Rolle hervor, die CGM bei der Beurteilung der Wirkungen von Nahrungsmitteln auf den Glucoseverlauf bei verschiedenen Menschen spielt.
Zum Schluss noch wie immer das Letzte
Von SpaceTech zu MedTech – was kann die Medizintechnik von der Luft- und Raumfahrt lernen? Medizintechnikunternehmen stehen vor ähnlichen Herausforderungen wie die Raumfahrt. Jedes kleine Versehen kann zu einem kostspieligen Problem führen, wenn es nicht frühzeitig erkannt und behoben wird – im schlimmsten Fall zu einem Produktrückruf. Trotz aller Innovationen in Wissenschaft, Technologie und Ingenieurwesen verlassen sich Ingenieure in der Medizintechnik oft auf dieselben veralteten Tools und umständlichen Arbeitsabläufe. So werden nach wie zuvor Systemanforderungen in Tabellenkalkulationen untergebracht oder Dateien per E-Mail geteilt. In einer Branche jedoch, die ein hohes Maß an Qualität verlangt, eine strenge Dokumentation erfordert und eine schnelle Markteinführung priorisiert, ist es an der Zeit, dass Ingenieure und Entwicklungsteams Cloud-basierte Plattformen nutzen, die auf die Zusammenarbeit bei der Elektronikkonstruktion zugeschnitten ist.
Dabei kann sie von der Luft- und Raumfahrt lernen, denn die steht seit Jahrzehnten für bahnbrechende Innovationen und höchste Präzision. Technologien, die einst für die Erkundung des Weltalls entwickelt wurden, finden zunehmend Anwendung in der Medizintechnik, das haben die Raumfahrtprogramme des letzten Jahrhunderts gezeigt. Neben technischen Errungenschaften können MedTech-Teams auch von den Arbeitsweisen, Prinzipien und der Denkweise in der Raumfahrt lernen. Ein Blick auf die Gemeinsamkeiten und Lektionen zeigt, wie der Austausch zwischen SpaceTech und MedTech das Gesundheitswesen revolutionieren kann. Hier ein paar Beispiele: Fehlerfreiheit ist das oberste Gebot hier wie dort, denn schon kleine Fehler, z.B. bei der Abgabe von Insulin in einer Pumpe, können massive Folgen haben. In der Raumfahrt arbeiten Ingenieure, Wissenschaftler, Techniker und IT-Experten Hand in Hand und es ist diese multidisziplinäre Zusammenarbeit, die auch in der Medizintechnik entscheidend ist, um komplexe Probleme zu lösen. Die Raumfahrt hat Maßstäbe in der Miniaturisierung gesetzt, um Geräte kompakter und leichter zu machen. Diese Technologien sind auch für die Medizintechnik bei tragbaren Geräten wie CGM-Systeme wichtig.
Die Raumfahrt hat Systeme entwickelt, um Astronauten über weite Entfernungen überwachen und steuern können. Solche Technologien finden zunehmend Anwendung in der Telemedizin und der Fernüberwachung von Patienten, z.B. für CGM- oder andere Systeme, die Gesundheitsdaten in Echtzeit an Ärzte übermitteln. In der Raumfahrt ist Resilienz entscheidend, denn die Systeme müssen auch unter extremen Bedingungen funktionieren. Für MedTech-Produkte gilt dasselbe: Ein AID-System muss unabhängig von äußeren Störungen zuverlässig arbeiten. Die Raumfahrt arbeitet mit begrenzten Ressourcen und deshalb hat Technologien entwickelt, um Energie, Wasser und Materialien optimal zu nutzen. Ansätze wie diese helfen, nachhaltigere medizinische Geräte zu entwickeln, z.B. könnten wiederverwendbare oder biologisch abbaubare Materialien in der Medizintechnik zum Standard werden. Last but not least denkt die Raumfahrtindustrie in Dekaden und strebt nach visionären Zielen wie der Besiedlung des Mars. Ähnlich könnten auch MedTech-Unternehmen langfristige Ziele verfolgen, wie etwa Heilmittel für chronische Krankheiten oder die Entwicklung von Organen aus dem 3D-Drucker.
Die Medizintechnik kann viel von der Raumfahrt lernen – von technischer Präzision über interdisziplinäre Zusammenarbeit bis hin zu visionärem Denken. Beide Disziplinen teilen das Ziel, das scheinbar Unmögliche möglich zu machen. Während die Raumfahrt die Grenzen des Weltalls verschiebt, hat die Medizintechnik das Potenzial, die Grenzen menschlicher Gesundheit zu überwinden. Die Verbindung dieser beiden Welten könnte die Grundlage für eine neue Ära des Fortschritts bilden – auf der Erde und darüber hinaus.
Einstweilen bleiben wir noch auf diesem Planeten. Diese Woche wird hier in den USA Thanksgiving gefeiert und damit das allseits beliebte Truthahnbraten, verbunden mit ungehemmter Völlerei. Und am Wochenende ist schon der erste Advent. Wir zünden das erste Kerzlein an, freuen uns über gemütliche Abende und Glühwein und versuchen unangenehme Nachrichten einfach auszublenden. Brecht hat dazu eine interessante Frage gestellt: „Wäre es nicht einfacher, die Regierung löst das Volk auf und wählt ein anderes?”
Ein schönes Wochenende wünschen
Dieser Artikel erscheint als Teil des wöchentlichen Letters zu hochaktuellen Entwicklungen im Bereich Diabetes Technologie. Nutzen Sie das nebenstehende Formular um sich für den diatec weekly Newsletter anzumelden!
Mit freundlichen Grüßen