Ein Gastbeitrag von Dr. Tim Heise
Das Konzept von glucose-sensitivem Insulin (GSI) wurde bereits vor mehr als 40 Jahren erstmalig von Brownlee und Cerami beschrieben und hat sich im Prinzip nicht wesentlich geändert: Insulin wird glykosyliert, also an Kohlenhydrate gebunden. Das glykosylierte Insulin bindet dann an Polymere wie z.B. Lectine (also Proteine, die Kohlenhydratstrukturen binden können). Diese Bindung erfolgt kompetitiv zu einer Bindung mit Glucose, so dass das glykosylierte Insulin bei hohen Blutglucose (BG)-Konzentrationen im Blut aus der Bindung verdrängt wird und wirken kann, während es bei niedrigen Glucose-Konzentrationen wieder an das Polymer bindet und damit inaktiviert wird.
Das klingt eigentlich nicht sehr kompliziert, und tatsächlich sind seit der ersten Publikation im Jahr 1979 buchstäblich tausende von Konzepten für GSIs veröffentlich wurde. Viele Hundert davon wurden auch nicht nur in-vitro, sondern auch präklinisch, meist in Mäusen oder Ratten, getestet, durchaus mit positiven Ergebnissen. Trotzdem gibt es bislang nur eine veröffentlichte klinische Studie beim Menschen, die zwar durchaus Glucose-sensitive Eigenschaften des getesteten Insulins MK-2640 nachwies, die jedoch als nicht ausreichend für eine weitere Entwicklung von MK-2640 erachtet wurden.
Der Teufel steckt dabei in vielen kleinen Details. Ein häufig unterschätztes Problem ist die Bindungs-Affinität zu Glucose mit ausreichend hoher Selektivität. Im Zeitalter von CGM und immer genauer messenden Point-of-Care Blutglucose-Messgeräten erscheint dieser Punkt trivial, aber es ist ein großer Unterschied, ob eine Glucose-Messung bzw. -Bindung innerhalb oder außerhalb des Körpers erfolgt. Außerhalb das Körpers wird zur Glucose-Messung häufig die Glucose-Oxidase Reaktion verwendet, bei der durch Oxidation von Glucose Elektronen freigesetzt und auf Sauerstoff übertragen werden. Die Elektronen (und damit die Glucose-Konzentration) können z.B. auf Teststreifen gut durch nachfolgende Reaktionen quantifiziert werden. Innerhalb des Körpers befindet sich Glucose in einer wässrigen Lösung zusammen mit vielen anderen, ähnlich polaren Molekülen, und es gibt nicht allzu viele Moleküle, die spezifisch an Glucose in einem physiologischen Konzentrationsbereich binden können.
Hinzu kommt, dass der physiologische Konzentrationsbereich von Glucose recht schmal und niedrig ist (bei ca. 3-11 mmol/l bzw. 50-200 mg/dl). Selbst wenn man sicherlich etwas höhere Glucosekonzentrationen für kurze Zeit akzeptieren könnte, muss in jedem Fall die Bindung an Glucose in einem kleinen Konzentrationsbereich zu einer sehr deutlichen Insulinantwort führen (bei Gesunden steigen die Insulinkonzentrationen nach einer Mahlzeit um das 10-fache oder mehr an). Und dieser Anstieg muss sehr schnell (innerhalb von Minuten) erfolgen – und genauso schnell muss bei einem Blutglucose (BG)-Abfall Insulin wieder gebunden und inaktiviert werden.
Zu allem Überfluss sind auch noch viele der Substanzen, die im Prinzip geeignet wären, unmittelbar oder mittelbar toxisch. So entsteht beispielsweise bei der Glucose-Oxidase Reaktion üblicherweise toxisches Wasserstoffperoxid. Auch Glucose-Oxidase selbst ist nicht unproblematisch, da sie aus Pilzen gewonnen wird und damit potentiell Immunreaktionen auslösen kann. Auch das von Brownlee und Cerami entwickelte Konzept mit der Bindung von Insulin an das Lectin Concanavalin A scheiterte (unter anderem) an der Mitogenität von Con A.
Jedes der geschilderten Probleme (Glucose-Selektivität, Toxizität, Reaktionsgeschwindigkeit, starke Insulinantwort bei relativ kleinen BG-Veränderungen) ist für sich noch lösbar, aber eine Lösung für alle Probleme gemeinsam ist extrem schwierig. So kann z.B. die Toxizitäts-Problematik überwunden werden, in dem das GSI entweder subkutan in Nanopartikeln oder direkt außerhalb des Körpers z.B. in mit dünnen Membranen überzogenen Mikronadeln appliziert wird. Die Freisetzung des Insulins erfolgt meist durch pH-Verschiebungen, die zu erhöhter Durchlässigkeit der Nanopartikel bzw. Mikronadeln führen. Die geringere Toxizität wird jedoch unausweichlich mit einer langsameren Insulinantwort erkauft, da sich BG-Verschiebungen erst mit zeitlicher Latenz im subkutanen Fettgewebe bemerkbar machen und das freigesetzte Insulin erst verzögert absorbiert wird.
Andere Ansätze sehen daher eine Platzierung des GSIs in der Zirkulation vor. Um Toxizitätsprobleme zu vermeiden, wurden dabei zum Teil sehr elegante Lösungen gefunden. So macht man sich z.B. Glucosetransporter (GLUT1) auf der Oberfläche roter Blutkörperchen zunutze, die kompetitiv Glucose oder glycosylierte Insuline binden können. Bei diabetischen Mäusen konnte damit auch eine glucoseabhängige Insulinantwort und BG-Absenkung sowohl im Nüchternzustand als auch nach Glucosebelastung unter Vermeidung von Hypoglykämien erreicht werden. Jedoch stieg die Insulinkonzentration selbst bei ausgeprägten BG-Änderungen (von 100 auf 400 mg/dl) nur um den Faktor 2,5 an, was bei Menschen mit Diabetes zu wenig sein dürfte.
Hoffnung machen neue Entwicklung insbesondere bei der Entwicklung der glucosebindenden Bestandteile der GSIs. So entwickelte die Firma Ziylo (mittlerweile von Novo Nordisk aufgekauft und in Carbometrics umbenannt) makrozyklische Moleküle mit einer sehr hohen Affinität und Spezifität für Glucose, die an Insulin gekoppelt werden können. In-vitro zeigte sich damit eine Veränderung der Insulinrezeptoraffinität bei einem Medium mit hoher Glucosekonzentration (20 mM) um den Faktor 7. Präklinische oder klinische Ergebnisse stehen jedoch noch aus.
Fazit: In Anbetracht der vielen Herausforderungen bei der Entwicklung eines GSIs erscheint es kaum realistisch, dass in absehbarer Zeit ein perfektes GSI kommerziell verfügbar sein wird. Möglich erscheinen aber (wenn auch erst in einigen Jahren) GSIs, die nicht sofort den gesamten Insulinbedarf regeln, sondern z.B. nur den basalen Insulinbedarf abdecken (also die Nüchtern-BG regeln). Das würde zwar nicht zu einem völligen Verschwinden, möglicherweise aber zu einer deutlichen Reduktion von Hypoglykämien führen. Ähnlich wie bei Closed-Loop-Systemen, die ja zunächst auch vorrangig die BG über Nacht erfolgreich regulieren konnten, bevor dann auch Fortschritte im Tagesverlauf sichtbar wurden, könnten so auch GSIs in mehreren Schritten immer weiter zu einer Vereinfachung der Insulintherapie mit weniger Hypoglykämien beitragen.
DiaTec weekly – Juni 4, 21
Artikel teilen & drucken
Dieser Artikel erscheint als Teil des wöchentlichen Letters zu hochaktuellen Entwicklungen im Bereich Diabetes Technologie. Nutzen Sie das untenstehende Formular um sich für den DiaTec weekly Newsletter anzumelden!
Mit freundlichen Grüßen