Unsere Tätigkeit hat leider nichts mehr mit strukturierter Schulung als klassische Aufgabe der Diabetes-Beraterin zu tun, sondern wir erfüllen ständig ärztliche Tätigkeiten aufgrund Mangel und Erfahrung der Stationsärzte. Eine Uniklinik bildet aus und kaum ist ein Arzt fit, ist er weg und wir beginnen von vorn mit der Weitergabe unseres Wissens.
Natürlich gibt es immer einen Diabetologen im Hintergrund, den wir fragen können, aber da sie selbst so viele Aufgaben haben, versuchen wir soweit es geht allein klarzukommen. In den beiden Tagen vor Weihnachten hatte ich allein Dienst. Eine 66-jährige Typ-1-Patientin kam „mit Pumpe“ (die sich dann als AID-System herausstellte) in der Notaufnahme, weil ihr am Tag zuvor Insulin in die Pumpe gelaufen war und die Pumpe nicht mehr funktionierte. Sie erhielt bereits am nächsten Morgen die neue Insulinpumpe, hatte aber in der Zwischenzeit kein Basalinsulin gespritzt und rutschte deshalb in die Ketoazidose. Die Pumpe und das DBLG1-Gerät hatte sie dabei, aber kein Insulin und keine Kartusche, ebenso den Inserter, aber keinen Sensor und kein BZ-Messgerät. Sie war vor dem Notfall gerade im Begriff gewesen, zu ihrem Diabetologen zu fahren, um das System wieder zum Laufen zu bringen. Inzwischen war es aber Mittag geworden – was also tun? So musste ich in diesem einen Gespräch erkennen, ob diese Patientin, nachdem der BZ wieder einigermaßen im Lot war, nach Hause geschickt werden konnte und was zur Absicherung getan werden muss – oder ob sie stationär aufgenommen werden muss und das in Zeiten, wo alle Stationen überfüllt und häufig Betten wegen Personalmangels gesperrt sind.
Am gleichen Tag war ich in der Frauenklinik bei einer insulinpflichtigen Mutter, die am Tag zuvor ihr totes Kind entbunden hatte, um ihr zu sagen, wie sie fortan das Insulin dosieren soll. Sie stand völlig unter Tavor (ein Beruhigungsmittel) und zeigte mir ein Foto von ihrem Baby mit roter Mütze und Pulli. Das hat mich sehr mitgenommen und natürlich wollte sie auch wegen Weihnachten nach Hause zu ihren beiden anderen Kindern und ihrem Mann. Ich musste also auch hier nach nur einem einzigen Gespräch entscheiden, wie die Insulintherapie zu Hause laufen soll.
Die nächste Patientin zwei Zimmer weiter war eine schwangere Muslima aus Pakistan mit frisch diagnostizierten Gestationsdiabetes. Ich sah sofort, dass aufgrund der BZ-Werte leitlinien-gerecht eine Insulintherapie begonnen werden musste und machte der Stationsärztin einen Therapievorschlag. Einen Tag später bereits musste sie entlassen werden, da eine der drei Gyn.-Stationen über die Feiertage geschlossen wurde. Dies Patientin betreue ich bis heute per WhatsApp, da sie erst diese Woche Donnerstag einen Termin beim Diabetologen bekommen hat. Sie macht es gut, schickt mir Fotos vom Tagebuch, so dass ich mir diesbezüglich wenig Sorgen mache, bis sie übernommen wird. Gestern hat sie mir aber anvertraut, dass sie quasi eingesperrt lebt, sogar Handy-Zeiten limitiert und sonstige Medien kontrolliert werden. Ihr Mann hat eine Geliebte und schlägt sie, wenn Sie ihn darauf anspricht. Nach unserem Chat hat sie ¾ unseres Austausches gelöscht, damit ihr Mann das nicht mitbekommt. Wie ich damit umgehe, weiß ich auch noch nicht, außer dass ich auf jeden Fall in der Praxis darüber Bescheid geben werde.
Dies ist ein kleiner Einblick in meinen Berufsalltag, zumindest was das Patientenklientel angeht. Auf der Chirurgie liegen die Pankreas-Operierten, auf der Inneren die Patienten mit Leberzirrhose, Tumoren im Magen-Darm-Trakt und neuroendokrine Tumoren, Dialyse-Patienten und endokrinologischen Erkrankungen mit oft langem Leidensweg bis zur Entdeckung. Und trotzdem möchte ich sagen, dass die Patienten trotz ihrer schweren Krankheitsbilder noch der Lichtblick in meinem Arbeitsalltag sind. Nicht mal in einem Viertel der Unikliniken in Deutschland hat überhaupt noch eine Endokrinologie, dementsprechend ist die Besetzung in unserer Abteilung sowohl an den zuarbeitenden Tätigkeiten als auch beim ärztlichen Personal extrem auf Kante genäht. Ich sehe die Expertise besonders der Endokrinologie, aber auch des Diabetes „den Bach runter gehen“.
Und ob Herr Lauterbach das Ruder schnell genug rumreißen kann, das wage ich zu bezweifeln, denn mit unserem Bereich kann man keinen Reibach machen und das wirtschaftliche Denken ist inzwischen dermaßen verankert und auch junge Ärzte sind darauf getrimmt, dass das so schnell nicht in den Köpfen gelöscht werden kann!
DiaTec weekly – Februar 10, 23
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Mit freundlichen Grüßen
Dieser Artikel spricht mir förmlich aus der Seele. Genau so läuft es auch bei uns, auch ich sehe den Diabetes in der Klinik den Bach runtergehen.
Auch ich finde mich in diesem super geschrieben Artikel wieder. Es muss endlich was geschehen, damit die Behandlung von Diabetikern in Fachkliniken und Fachabteilungen entsprechen bezahlt wird. Der Arbeitsaufwand wird immer größer und das Fachwissen für Diabetesberaterinnen muss immer umfangreicher werden. Somit sind wir alle am Limit.