Vor einiger Zeit hat die Medical Tribune mit Unterstützung der Firma Berlin-Chemie ein spannendes und informatives Format aufgesetzt: die Dia:cussions! Dies sind einstündige Pro-und Contra-Diskussionen zu verschiedensten Themen in der Diabetologie. Dabei setzen sich immer zwei anerkannte Experten mit einem bestimmten Thema auseinander und versuchen über einen „Schlagabtausch“, die verschiedenen Sichtweisen und Aspekte des jeweiligen Themas zu beleuchten. Zum Thema ePA diskutierten Prof. Dirk Müller-Wieland aus Aachen die Pro- und Dr. Nikolaus Scheper aus Marl die Contra-Seite.
Prof. Müller-Wieland, Leiter des Koordinierungszentrums für kardiologische klinische Studien am RWTH in Aachen und bis 2019 Präsident der DDG sieht mit der ePA die längst überfällige Chance für EINE Plattform, die alle relevanten Informationen zu einem Patienten enthält und sämtlichen Behandlern aus dessen Netzwerk zur Verfügung steht. Er machte am Beispiel einer 86-jährigen Patientin, die trotz ihres Alters durchaus technik-affin ist, deutlich, wie mühsam es aktuell für sie ist, Informationen zu ihrem aktuellen Gesundheitszustand abzurufen und mit dem behandelnden Hausarzt einerseits und mit einem Facharzt, der sie ebenfalls für ihre komplexen Erkrankungen behandelt, abzugleichen – eine Situation, die sich mit zunehmendem Alter der Patientin noch verstärken wird. So wie aktuell die Daten vorliegen bzw. verteilt sind, ist weder ein Abgleich der Daten möglich noch sind sie systematisch auswertbar, um daraus den maximalen Erkenntniswert für sie und ihre Erkrankung zu gewinnen.
Allgemeiner gesehen kritisierte er den Wildwuchs an unterschiedlichen und nicht kompatiblen Datenstrukturen und die Vielfalt an Softwaresystemen in Kliniken und Praxen als eine der grundlegenden Schwächen unseres Gesundheitswesens. Um dies endlich einmal grundlegend zu regeln, sieht er in dem Konzept der ePA die Basis, um überhaupt eine datenbasierte und patientenorientierte Grundlage für den transsektoralen Austausch zu schaffen. So wie irgendwann einmal der Schienenabstand bei der Eisenbahn festgelegt wurde, damit man nicht an jedem Bahnhof den Zug wechseln muss, so muss es endlich auch Standards bei der Datengrundlage geben. Ein weiterer positiver Aspekt der ePA ist für Müller-Wieland die Forschung: Um Krankheitsbilder besser zu verstehen und Zusammenhänge erkennen zu können, reicht es nicht mehr, sich nur auf die bisherige und langwierige Grundlagenforschung zu stützen. Daten aus der unmittelbaren Versorgung von Patienten sind ja vorhanden, deshalb brauchen wir Wege, die diese Daten verfügbar und auswertbar zu machen. Beispiel Schweden: Dort gibt es ein Diabetes-Register, indem JEDER Diabetes-Patient erfasst wird. Aktuell sind dort Daten von 300.000 Patienten mit Diabetes mellitus erfasst. Vergleicht man diese Daten mit den 1,4 Mio. Menschen ohne Diabetes mit einem vergleichbaren Alter, findet man rasch Antworten auf Fragen wie: Wieviel höher ist denn das Risiko für einen Myokardinfarkt oder Schlaganfall im Vergleich zu Menschen ohne Diabetes?
Sein dritter und letzter Aspekt zielte auf die Gestaltung der digitalen Transformation im deutschen Gesundheitswesen ab und Müller-Wieland zeigte sich davon überzeugt, dass mehr Daten von guter Qualität die Medizin von morgen verbessern kann und den Patienten helfen wird, z.B. durch bessere flächendeckende Versorgungsstandards. Sein Fazit daher: Um besser zu werden und effizienter, patientenorientierter und individualisierter, muss endlich problemorientiertes und datenbasiertes Handeln in die Patienten-Versorgung eingeführt werden und dabei hilft die ePA als wichtiges Werkzeug für eine bessere Interoperabilität.
Sein Kontrahent, Nikolaus Scheper, fokussierte in seinem Statement auf Punkte, die seiner Meinung nach längst nicht ausreichend, ja nicht mal zufriedenstellend geklärt sind, obwohl die Einführung der ePA ein weitreichender Eingriff in die Prozesse der praktischen Arbeit in der Diabetologie ist. Dazu gehört als erstes das Thema Datensicherheit, offenbar kam es in den vergangenen Monaten wohl bereits mehrfach zu Datenlecks. Auch sieht er durch die ePA vollkommen andere Dimensionen, wenn es zu einem „Leak“ kommt, als wenn eine einzelne Praxis gehakt wird. Auch das Thema Zugriffsrechte der Daten ist nach Schepers Meinung nicht ausreichend geklärt: Wer ist eigentlich Besitzer der Daten? Der Patienten selber oder sein Behandler oder die Krankenkasse? Scheper sieht hier besonders kritische Aspekte, weil die Kostenträger als reine Kaufleute am Ende die größten Nutznießer der ePA seien: Sie kommen plötzlich an gut aufbereitete Daten in Mengen, die sie zurzeit nicht haben. Scheper erwähnte einen Einzelfall, bei dem ein großer deutscher Kostenträger Patientendaten kommerzialisiert hat – etwas, was ein absoluter Verstoß sein sollte. Gleichzeitig wollen die Kassen aber nicht die zusätzlichen Kosten tragen, die mit Einführung und Nutzung der ePA entstehen. Momentan würden alle Kosten, die durch die Anschaffung von zusätzlichem Equipment, technische Updates der Praxissoftwaresysteme und Mehrarbeit der Mitarbeiter entstehen, auf die Ärzte abgewälzt. Es ist zu Systemabstürzen in Praxen gekommen, die daraufhin tagelang schließen mussten. Scheper sieht hier deutlichen Diskussions- und Nachbesserungsbedarf, denn die aktuelle Unterstützung ist seiner Meinung nach höchstens marginal.
Warum ein solch wichtiges und zukunftsweisendes Instrument in der Deutschland Gesundheitslandschaft dermaßen stiefmütterlich von der Politik, den Kostenträger und weiteren beteiligten Stakeholdern behandelt wird, erschließt sich ihm auch nicht. Er betrachtet besonders diesen Aspekt als respektlos und arrogant gegenüber denjenigen, die das am Ende umsetzen sollen – die Ärzte im niedergelassenen Bereich. Als eigenverantwortlich handelnde Unternehmer, die niedergelassene Ärzte ja nun mal sind, sind sie natürlich immer daran interessiert, gute neue Lösungen zu finden, die den täglichen Workflow verbessern. Workflow behindernde Lösungen dagegen sind ein No-Go, denn sie werden dann auch nicht oder nur schleppend umgesetzt.
Wird die Patientenversorgung durch die ePA besser? Diese wichtige Frage scheint nach Schepers Meinung eine der am wenigsten gestellten Fragen zu sein, denn er sieht die Patientenversorgung in Deutschland bereits als hervorragend an, auch wenn sich immer noch etwas verbessern lässt. Die wesentliche Verantwortung von Ärzten ihren Patienten gegenüber ist die Wahrung der Persönlichkeitsrechte und in all ihrem medizinischen Handeln müssen sie in erster Linie Schaden vom Patienten abwenden.
Schepers Fazit: Durch die ewig dauernde Vorbereitungszeit der ePA sind die Hardware-Systeme inzwischen teils 15 Jahre alt, während man gleichzeitig nicht konsequent die Infrastruktur für die Einführung und Umsetzung geschaffen hat. Man beginnt also ein solch wichtiges und zukunftsweisendes Projekt in Deutschland mit mangelnden Kommunikationsstrukturen zwischen den Sektoren und veralteter Technik, die in vielen Fällen nicht oder wenig kompatibel ist mit den Praxissoftwaresystemen, immerhin das Herz einer jeden Praxis.
Während des Lifestreams wurden mehrfach Fragen an die Zuhörer gestellt, darunter auch die Frage, wer eigentlich am meisten durch die ePA profitiert? Fast die Hälfe der Zuhörer glaubt, dass dies die Ärzte sind, 30% denken, dass Alle profitieren und die restlichen 20% teilen sich auf zwischen Kostenträgern und Patienten.
In ihren Abschluss-Plädoyers wünscht sich Prof. Müller-Wieland mehr Dialog zwischen den Stakeholdern und appellierte an die Ärzte, sich mehr auf die Chancen der ePA und weniger auf die lösbaren Hürden zu konzentrieren, während Claus Scheper die ePA durchaus als echte Chance für die Problematik der Interoperabilität sieht, aber nochmals dringend Lösungsansätze für die aktuellen Hürden und Schwächen forderte. Aus diesen beiden Standpunkten entwickelte sich eine lebhafte und spannende Diskussion – eben eine echte Dia:cussion!
DiaTec weekly – April 30, 21
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