Prof. Dr.-Ing. Uvo M. Hölscher, Steinfurt
Eine Patientin mit Typ-1 Diabetes hat mich über das Aktionsbündnis Patientensicherheit als Medizinprodukt-Experten um Unterstützung gebeten, weil sie einen signifikanten Mangel bei „BD Micro-Fine + Demi“ Insulinspritzen vermutete. Sie verwendet diese Spritzen nach ärztlicher Verordnung, um geeignete Insulindosen nach vorheriger Blutglucosemessung zu applizieren. Dabei verwendet sie ausgesprochen niedrige Insulindosen (U-100 Insulin) im Bereich von 0,3 bis 4,0 U, eine Dosis von >5,0 U sei selten. Ihre hohe Insulinempfindlichkeit und das geringe Körpergewicht der Patientin seien die Erklärung für diese niedrigen Dosierungen, die man ja sonst nur von Kindern mit Typ-1-Diabetes kennt.
Diese Patientin hat nun beobachtet, dass bei vielen dieser Spritzen der Kolben über den Nullpunkt der Skala hinaus zu drücken ist – der Nullpunkt der Skala ist also nicht der mechanische Nullpunkt der Spritze. Dadurch besteht die Gefahr einer gewissen Überdosierung von Insulin.
Als Ingenieur und Nichtmediziner stelle ich hier die Frage nach der klinischen Relevanz: Ist diese Menge an zu viel appliziertem Insulin z.B. bei Kindern oder anderen insulinsensitiven Patienten von klinischer Relevanz? Der Arzt der Patientin versorgt etliche PatientInnen mit Typ-1-Diabetes und versicherte mir, dass der tägliche Insulinbedarf von vielen von ihnen sogar noch unter dem dieser Patientin liege.
Aus klinischer Sicht sollte vermieden werden, dass bei richtigem Handling der Spritze unbeabsichtigt zu viel Insulin appliziert wird, wenn dies mit inakzeptablen Risiken einhergeht. Patienten ziehen das Insulin aus dem Fläschchen mit der Spritze unter Beobachtung bis zur gewünschten Dosis auf, applizieren dann aber „blind“ diese Insulinmenge durch Drücken des Kolbens bis zum Anschlag. Jeder Beteiligte, d.h. die Patienten und das medizinische Personal gehen davon aus, dass der Kolben am Nullpunkt der Skala zum Anschlag kommt. Wenn diese Skala aber etwas „verrutscht“ auf der Spritze sitzt, ist das nicht mehr der Fall.
Um eine zuverlässige Gefährdungseinschätzung dieser Patientin (und möglicherweise von anderen Patienten) machen zu können, habe ich in einem ersten Schritt zusammen mit einem Studierenden eine Messreihe mit diesem Typ von Insulinspritzen durchgeführt, um den realen Fehler bei der Insulinapplikation zu untersuchen. Dabei wurde eine hochpräzise Waage verwendet, um die Menge an abgegebenem Insulin zu ermitteln.
Sieben Spritzen wurden nacheinander blasenfrei bis auf 10 U aufgezogen, gewogen und dann schrittweise auf 5 U, 4 U, 3 U, 2 U, 1 U, ½ U und zum Schluss bis zum Anschlag des Kolbens entleert. Nach jedem Entleerungsschritt wurde ein eventueller Tropfen an der Kanüle abgestrichen und die Spritze danach gewogen. Es wurde extra nicht die abgegebene, sondern die verbliebene Menge gewogen, um Verdunstungseffekte auszuschließen. Jede Spritze, ihre Skala und die Kolbenstellung wurden bei jedem Füllungsgrad fotografiert, um die Füllmenge optisch zu dokumentieren. Pro Spritze liegen also sieben Messwerte und Fotos vor, insgesamt 49.
Von den sieben vermessenen Spritzen lagen die Messergebnisse nur bei einer vollständig innerhalb der in der Norm DIN EN ISO 8537 angeführten Toleranzgrenzen. Bei den sechs anderen Spritzen gab es zum Teil erhebliche Überschreitungen der angeführten Toleranzgrenzen. Bei 0,5 U liegt laut Norm der „erlaubte“ Fehler bei 92%, bei mehreren Spritzen lag der reale Fehler aber bei über 120%. Auch bei 1 U wurde der „erlaubte“ Fehler erheblich überschritten.
Fazit: Spritzen haben genauso wie alle anderen mechanischen und elektronischen Instrumente die Eigenschaft, dass Fehler im unteren Arbeitsbereich naturgemäß wesentlich höher sind als im oberen Arbeitsbereich. Ein Teil der vermessenen Spritzen dosiert das Insulin im Bereich der kleinen Dosen erheblich zu hoch. Die in der Norm vorgeschlagenen Toleranzfelder werden massiv überschritten.
Hier kommen die beiden Fragen an Sie:
Fragen:
- Wie bewerten Sie das klinische Risiko durch Überdosierung für diese insulinsensitive Patientin bei Dosierungen von 0,5 bis 3 U?
- Wenn ein relevantes Risiko besteht: Gibt es für diese Patientin einen praktikablen Weg, dieses Risiko zu reduzieren?
DiaTec weekly – Februar 25, 22
Artikel teilen & drucken
Dieser Artikel erscheint als Teil des wöchentlichen Letters zu hochaktuellen Entwicklungen im Bereich Diabetes Technologie. Nutzen Sie das untenstehende Formular um sich für den DiaTec weekly Newsletter anzumelden!
Mit freundlichen Grüßen