Sind es Schutzmaßnahmen oder Protektionismus? Hinter den geplanten Maßnahmen verbirgt sich mehr als bloße Sicherheitsvorsorge: Es geht um geopolitische Spannungen, wirtschaftliche Abhängigkeiten und ein zentrales Element europäischer Industriepolitik. Seit Inkrafttreten der EU-Medizinprodukteverordnung (MDR) im Mai 2021 gelten in Europa deutlich strengere Regeln für die Zulassung von Medizinprodukten. Hersteller müssen unter anderem umfassende klinische Daten vorlegen und strengere Überwachungspflichten erfüllen. Diese Anforderungen stellen europäische, aber insbesondere außereuropäische Unternehmen vor große Herausforderungen.
Nun will die EU offenbar gezielt Produkte aus China stärker kontrollieren oder ganz vom Markt ausschließen und verweist dabei auf unzureichende Transparenz, fehlende Datensicherheit und mangelnde Reziprozität. Während europäische Produkte oft langwierige Prüfverfahren in China durchlaufen müssen, gelten für chinesische Exporte nach Europa bislang niedrige Hürden.
Diabetes-Technologie wie CGM-Systeme, Insulinpumpen und automatisierte Insulin-Dosierungssysteme (AID) sind besonders betroffen, weil diese Systeme direkt in die tägliche Therapie chronisch kranker Menschen eingreifen.
Die EU befürchtet, dass Produkte chinesischer Anbieter hier nicht den europäischen Datenschutz- und Qualitätsstandards entsprechen und gleichzeitig europäische Hersteller mit Dumpingpreisen unter Druck setzen. Untersuchungen ergaben, dass chinesische Krankenhäuser ungerechtfertigt dazu ermutigt werden, Produkte einheimischer Hersteller zu wählen: „Die Kommission hat Maßnahmen und Praktiken auf dem chinesischen Beschaffungsmarkt festgestellt, die zu einer Diskriminierung von EU-Unternehmen und in der EU hergestellten Produkten führen“, erklärte Kommissionssprecher Olof Gill am Donnerstag in einer E-Mail. „Diese Diskriminierung schadet sowohl der chinesischen Gesundheitsinfrastruktur, die über keine hochwertige Ausrüstung verfügt, als auch EU-Unternehmen und führt zu hohen Kosten für Arbeitsplätze und Wirtschaftstätigkeit in der EU.“
Laut informierten Kreisen aus Brüssel soll nun an mehreren Stellschrauben gedreht werden:
- Zulassung nur bei nachweisbarer Sicherheitsinfrastruktur: chinesische Hersteller müssten nachweisen, dass ihre Produkte nicht nur den MDR-Anforderungen genügen, sondern auch in einem nachvollziehbaren, zertifizierten Qualitätssystem produziert wurden.
- Strengere Kontrollen und Rückverfolgbarkeit: Medizinprodukte aus China sollen einer lückenlosen Lieferkettentransparenz unterliegen, inklusive Offenlegung sensibler technischer Daten.
- Sicherheitsbedenken als Handelshemmnis: Unter Berufung auf nationale Sicherheit und den Schutz kritischer Infrastrukturen könnten bestimmte Produktkategorien (etwa Diagnostik- oder digitale Überwachungssysteme) von chinesischen Anbietern ausgeschlossen werden.
- Reziprozitätsklauseln: Die EU-Kommission prüft angeblich, ob sie europäische Marktöffnungen künftig an vergleichbare Zugänge für EU-Produkte in China knüpfen kann.
Die europäischen Hersteller begrüßen zumindest teilweise die Initiative, weil sie sich seit Jahren über unfaire Wettbewerbsbedingungen beklagen. Viele chinesische Produkte seien deutlich günstiger, weil sie unter anderen regulatorischen und sozialen Standards produziert würden. Kritik kommt jedoch von Handelsverbänden und internationalen Beobachtern: Die geplanten Maßnahmen könnten nicht nur den Wettbewerb verzerren, sondern auch zu Vergeltungsmaßnahmen führen. China ist ein bedeutender Exportmarkt für europäische Medizintechnikunternehmen und das Wachstum für den CGM‑Markt soll sich bis 2029 voraussichtlich von 381 Mio USD auf über 1,56 Mrd USD entwickeln.
Die Pläne der EU reihen sich ein in eine zunehmende strategische Neuorientierung Europas gegenüber China und sind deshalb durchaus als politisches Signal an Peking zu bewerten. Neben Medizinprodukten stehen auch Bereiche wie Batterietechnologie, Solaranlagen und Künstliche Intelligenz im Fokus. Die EU-Kommission will strategische Abhängigkeiten abbauen und zugleich Druck auf China ausüben, seine Märkte für europäische Unternehmen fairer zu gestalten.
Fazit: Was als Maßnahme zur Patientensicherheit und Qualitätssicherung beginnt, könnte sich schnell zu einem geopolitischen Konflikt ausweiten. Zwischen legitimen Schutzinteressen und wirtschaftlichem Protektionismus verläuft ein schmaler Grat. Die kommenden Monate werden zeigen, ob es der EU gelingt, diesen zu beschreiten – oder ob sich der Gesundheitssektor zum nächsten Schauplatz globaler Handelskonflikte entwickelt.
Noch ist unklar, wie weit die Maßnahmen reichen werden und ob sie überhaupt rechtlich durchsetzbar sind. Denn ein pauschales Verbot chinesischer Produkte könnte gegen WTO-Regeln verstoßen. Auch bleibt abzuwarten, ob andere Länder, etwa die USA, ähnliche Schritte planen oder sich die EU mit einer restriktiven Linie international isoliert. Die Kommission hat ihre Bedenken mit den chinesischen Behörden erörtert. Es wurde jedoch keine zufriedenstellende Lösung vorgeschlagen, und die EU habe keine andere Wahl, als das Problem durch eine IPI-Untersuchung (International Procurement Instrument – ein handelspolitisches Instrument der Europäischen Union, für faire Wettbewerbsbedingungen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zwischen der EU und Drittstaaten) anzugehen, schrieb Gill. Die Kommission erklärte, sie könne weder den Inhalt des IPI-Maßnahmenentwurfs noch die nächsten Schritte im Verfahren offenlegen.
Vielleicht sollte vor In-Kraft-Treten der Hemmnisse nochmal geredet werden, die europäischen und chinesischen Staats- und Regierungschefs treffen sich im Juli zu einem Gipfeltreffen in Peking.
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