ein Interview mit Bernd Kulzer
weekly: Bisher gibt es zwei viel beachtete D.U.T-Reports zur Lage der Digitalisierung und Technologie in der Diabetologie, die unter Deiner Federführung entstanden sind. Der D.U.T-Report liefert konkrete Zahlen zu vielen wichtigen Fragen in diesen Bereich und ist gleichzeitig durch die jährlichen Befragungen eine Möglichkeit, Veränderungen bei den Haltung zu diesen Fragen über die Zeit hinweg mitzubekommen. Aktuell wird der dritte Report vorbereitet, deshalb müssten sich solche Veränderungen in den Versorgungsstrukturen langsam zeigen. Siehst Du einen Veränderungsprozess bzw. was fehlt Deiner Ansicht nach noch dafür und was gilt es zu tun?
Bernd: Mit der mittlerweile dritten Umfrage haben wir die Möglichkeit, Veränderungstrends abzubilden. Und tatsächlich ist das Tempo der Innovation in Hinblick auf neue Technologien sehr hoch. In nur einem Jahr – von 2018 auf 2019 – nahm die Zahl der Patienten mit CGM (rtCGM) um 66%, der von Flash Glukose-Monitoring (iscCGM) um 49% und derer mit einer Insulinpumpe um 30% zu. Ich bin gespannt, ob sich dieser Trend auch 2020 fortsetzt. Auf der anderen Seite haben sich viele diabetologische Einrichtungen noch nicht damit auseinandergesetzt, dass diese neuen Technologien und die fortschreitende Digitalisierung auch immense Auswirkungen auf die eigene Arbeitsweise, das Selbstverständnis von diabetologischen Einrichtungen und die zukünftige Versorgung von Menschen mit Diabetes hat. Frau Prof. Bellinger aus Luzern hat dies in einem Gastbeitrag im letzten D.U.T Report als Prozess der „Digitalen Transformation“ beschrieben. Dieser Veränderungsprozess geht über die technischen Dimensionen hinaus und meint eine andere Form des Denkens und Handelns, welche plakativ durch Begriffe wie Konnektivität, Partizipation, einem veränderten „Mindset“ und einem Trend von „Systemen“ hin zu „Netzwerken“ charakterisiert werden kann. In dem D.U.T-Report 2021 möchten wir uns daher vor allem der Frage widmen, welche Auswirkungen all diese Prozesse für die zukünftige Arbeit von Diabetes-Teams hat und befragen auch Diabetesberaterinnen dazu.
weekly: Digitale Gesundheitsangebote (DiGAs) sind weltweit ein Novum in der Patientenversorgung. Erstmalig sollen in Deutschland die Kosten für Apps von den Krankenversicherungen übernommen werden, aber natürlich nur dann, wenn die Apps eine gute bis hervorragende Qualität aufweisen. Du beschäftigst Dich aktuell intensiv mit den DiGAs in der Diabetologie. Wie ist der Stand der Dinge dabei?
Bernd: Das Gesundheitsministerium hat auf der einen Seite einen bewundernswerten Elan und Schwung in der „Verordnung von Apps auf Krankenschein“ gelegt und wird nicht müde zu betonen, dass Deutschland hier weltweit Vorreiter ist. Man möchte fast meinen, dass das BMG es leid ist, immer wieder zu hören, dass Deutschland bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens im Vergleich mit anderen Staaten vergleichsweise eigentlich immer im hinteren Mittelfeld zu finden ist und jetzt endlich auch einmal einen Punkt machen will. Allerdings sind die Hürden für eine Zulassung sehr hoch, so dass ein DiGA eines kleinen Start-ups wahrscheinlich keine Chance hat, hier zum Zuge zu kommen. Es wird eine CE-Kennzeichnung, ein sehr umfangreiches Qualitätsmanagement-, Risiko- und Datenschutzkonzept verlangt und neben Daten aus der Versorgung auch ein Effektivitätsnachweis durch eine Studie durch ein unabhängiges Forschungsinstitut. Dies sichert auf der anderen Seite aber auch für Ärzte und Patienten eine gewisse nachvollziehbare Qualität der Apps, die dann von Ärzten auf Kosten der Krankenversicherung verschrieben werden können. Unter den ersten Apps, die beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eingereicht werden oder bereits wurden, sind auch Diabetes-Apps. Aktuell wurden 27 Apps beim BfArM zur Prüfung eingereicht und diese Woche – am 6.10.2020 – auch bereits die ersten beiden Apps ins DiGA-Verzeichnis aufgenommen. Es handelt sich dabei um die App „kalmeda“ des Herstellers mynoise GmbH, der Patienten mit chronischer Tinnitusbelastung eine leitlinienbasierte, verhaltenstherapeutische Therapie anbietet. Als zweite App kann die Webanwendung „velibra“ des Herstellers GAIA AG, welche sich an Patienten mit Angststörungen wendet, zukünftig von Ärzten und Psychotherapeuten kostenfrei Patienten verschrieben werden. Dier Kosten der App trägt die Krankenkasse. Insgesamt werden in nächster Zeit noch etliche weitere Apps zugelassen werden: Das BfArM berichtet von insgesamt 85 Beratungsgesprächen zur Einreichung, die bislang schon mit interessierten Entwicklern geführt wurden.
Den medizinischen Fachverbänden wird bei der Bewertung von Apps ein Mitspracherecht eingeräumt. Der Ausschuss „Qualität, Schulung und Weiterbildung“ (QSW) beschäftigt sich bereits mit der Frage und wird demnächst dem Vorstand der DDG ein Papier vorlegen, welches sich konkret auf die Bewertung von Diabetes-Apps bezieht.
weekly: Kannst Du schon etwas dazu sagen, welche DiGAs für die Diabetologie demnächst verordnungs- und damit auch erstattungsfähig sein werden (Stichwort mySugr)?
Bernd: „mySugr“ von Roche gehört zu den ersten 27 Apps, die bislang bei dem BfArM eingereicht worden sind. mySugr hatte schon eine Reihe von Daten aus der Versorgungskontext generiert, die App ist bereits seit ein paar Jahren auf dem Markt, so dass mySugr einen gewissen Startvorteil hatte. Wenn der Antrag auf vorläufige Listung als verordnungsfähige App positiv beschieden wird, kann davon ausgegangen werden, dass mySugr ab Anfang 2021 verschrieben werden kann. Die aktuelle Version umfasst keinen Boluskalkulator und keine Coaching-Funktion, allerdings eine Reihe von Funktionen zur Unterstützung der täglichen Therapieentscheidungen von Menschen mit Diabetes. Um die Effektivität der App zu überprüfen, plant Roche zusammen mit FIDAM für das Jahr 2021 eine randomisierte Studie mit mehr als 450 Patienten.
Wer als Studienzentrum an dieser Studie teilnehmen möchte, kann sich bei FIDAM melden. Auf der Basis der Studienergebnisse wird dann nach einem Jahr endgültig über die Aufnahme der App in das Verzeichnis der von Ärzten verordnungsfähigen Apps entschieden und der endgültige Preis festgelegt.
weekly: Apps werden häufig von kleinen Anbietern, Stichwort Garagen-Start-Up entwickelt. Schaffen die es, ihre vielleicht guten Ideen bis zur Marktreife zu entwickeln? Und welche großen und bekannten Firmen sind hier noch aktiv?
Bernd: Garagen-Start-Ups werden es nach meiner Einschätzung nur mit einem größeren und finanzstärkeren Partner aus der Industrie, einer Krankenkasse oder einem Investor schaffen, in das DiGA-Verzeichnis aufgenommen zu werden. Die Kosten bis zur Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis liegen bei mindestens einer halben Million Euro, das ist aber die untere Grenze. Im Diabetesbereich beschäftigen sich die meisten großen Diabetesfirmen mit der Entwicklung von Apps. Dies liegt auch daran, dass aufgrund der Anzahl von mehr als 7 Millionen Menschen mit Diabetes eine Chance besteht, die hohen Anfangsinvestitionen wieder refinanziert zu bekommen. Bei Apps ist traditionell die Einschätzung der Nutzer für den Erfolg maßgeblich. Daher werden sich langfristig nach meiner Meinung nur die Apps durchsetzen, die für den Patienten einen echten Mehrwert bringen.
weekly: Stichwort Studien: Ihr führt in Eurem Institut FIDAM auch Studien durch. Hast Du einen Überblick dazu, ob es bereits Studien zu DiGAs gibt? Laufen aktuell welche an und sucht Ihr vielleicht gerade Zentren, die sich gerne beteiligen möchten?
Bernd: Wir planen – wie auch andere Forschungsinstitute – gerade einige Studien zu Apps und sind natürlich über Zentren und Praxen froh, die sich an den klinischen Studien beteiligen. Unter kulzer@fidam.de können sich interessierte Praxen gerne melden.
Vielen Dank an Bernd Kulzer für diesen spannenden Einblick in neue Welten. Zum Abschluss des Gesprächs möchten wir die Gelegenheit nutzen und auf die aktuelle Umfrage zum D.U.T-Report 2021 hinzuweisen, der gleichermaßen Diabetologen als auch Diabetesberater-/assistenten/innen befragt. Die Umfrage wurde verlängert und geht noch bis zum 15.10. 2020.
Bitte klicken Sie gerne und reichlich – je mehr Daten, umso repräsentativer das Ergebnis!
DiaTec weekly – Oktober 9, 20
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