Kontrovers diskutieren Hajo Mühlen aus Duisburg und Jens Kröger aus Hamburg, beides technikaffine Diabetologen mit großen Diabetes-Schwerpunktpraxen, zum Thema DiGAs – Apps in der Verordnung. Jens Kröger machte den Anfang und vertrat mit Pro-Argumenten das Thema. Er begann mit einer kurzen Übersicht: Aktuell erhält man 2,5 Mio. Treffer, wenn man nach Apps zum Thema Gesundheit sucht. Darunter sind überwiegend Wellness-Angebote oder Apps zum Gewichts- oder Bewegungsverhalten. Eine systematische Übersicht fehlt dabei und auch der Nutzen vieler Apps ist eher nebulös einzustufen. Einzig eine Metaanalyse von 13 randomisierten, kontrollierten Studien zu Diabetes-Apps aus den Jahren 2016 – 2018 zeigt positive Effekte auf den HbA1c – bei 6 von 13 RCTs ließ sich in den Interventionsgruppen eine statistisch signifikante Reduktion des HbA1cs nachweisen. Ein großes Problem ist die Heterogenität dieser Studien, so dass kaum allgemeingültige Aussagen gemacht werden können. In der Diabetologie nutzen etwa 10% der Patienten Apps außerhalb von Auswertungen und Analysen für CGM-Systeme, technikaffine Menschen probieren vieles einfach mal aus, aber im Endeffekt sind das eher wenige Menschen – was zu der Frage führt, warum die Nutzung eigentlich so spärlich ist?
Eine App sollte immer einen Mehrwert bieten, etwas, dass ein Betroffener schnell erkennen kann, für Außenstehende aber oft schwierig zu beurteilen ist, deshalb sollen die DiGAs die Spreu vom Weizen trennen. Eine DiGA soll Teil einer digital-gestützten Gesundheitsversorgung sein und neben der elektronischen Gesundheitskarte und der elektronischen Patientenakte ihre berechtigte Ergänzung in der Patientenversorgung finden. Voraussetzungen dafür, dass eine App zu einer DiGA wird ist jedoch, dass die positiven Versorgungseffekte nachgewiesen werden müssen, z.B. durch Verbesserung des Gesundheitszustandes oder Verkürzung des Krankenhausaufenthaltes oder eine bessere Koordination der Behandlungsabläufe. Dabei wird es sicherlich nicht zu einer Flut an neuen Apps auf die Smartphones der Nutzer kommen. Es bleibt abzuwarten, wie viele Weltneuheiten (Spahn) es dann am Ende geben wird, die Hürden dafür sind jedenfalls hoch. Es geht vielmehr um die Chance, dass sinnvolle DiGAs zu einem niederschwelligen digitalen Baustein zwischen dem klassischen Gesundheitssystem und dem Patientenalltag werden. DiGAs sollen helfen, das Leben zu vereinfachen und – so zumindest die Hoffnung – das Gesundheitssystem finanziell entlasten, sofern sie Eskalationen des Krankheitsgeschehens verhindern oder verzögern können. Das gelingt aber nur dann, wenn Ärzte diesen Prozess steuern und die Patienten sinnvoll begleiten und die Kontrolle über das Krankheitsgeschehen behalten.
Kröger sieht DiGAs als innovativ und zukunftsweisend: Kein anderes Land der Welt hat derzeit einen geregelten und schnellen Weg von digitalen Gesundheitsanwendungen in ein Verordnungssystem. Im Gegenteil – bislang wurden Innovationen in Deutschland eher verhindert oder gelangten nur schwer in das Gesundheitssystem. Hier liegt also eine große Chance, auch weil Kröger eine digitale Neuordnung als unbedingt erforderlich sieht: Längst stehen die Internetgiganten in den Startlöchern, um mit ihren Produkten und Standards die Märkte zu dominieren. Nun gibt es Chancen für patientenorientierte, alltagstaugliche, transparente und datenschutzkonforme Lösungen, um Patienten mit Diabetes bei ihrer Versorgungsqualität zu unterstützen.
Die Contra-Position wurde von Hajo Mühlen vertreten: Er empfiehlt durchaus Apps, findet den Markt dafür aber noch unübersichtlich und zu stark wachsend, um adäquat hinterherzukommen. Apps sind seiner Meinung nach nur dort sinnvoll, wo sie Teil einer Behandlungsstrategie sind bzw. die Behandlung dort ergänzen, wo es Lücken gibt oder dem Arzt Daten liefern, die er sonst nicht bekommt. Im aktuellen Kontext sieht er den Nutzen von Apps nur auf der Patientenseite, während der Arzt außen vor bleibt, was im Klartext bedeutet, dass eine App primär kein Bestandteil der ärztlichen Behandlungsstrategie sein muss und im schlimmsten Fall sogar schaden kann. Auch läuft die Nutzenbewertung, die innerhalb eines Jahres im Rahmen einer Studie belegt werden muss, vollkommen unabhängig von den Interessen der Patienten und der Ärzte. Mühlen sieht das Problem für eine unabhängige Nutzenbewertung auch dadurch gegeben, dass die Hersteller sowohl die Nachweiskriterien als auch das Studiendesign festlegen. Weil auch Krankenkassen Apps an ihre Versicherten abgeben dürfen, sieht er eine erhebliche berufspolitische Gefahr, die sich darin begründet, dass das primäre Interesse einer Krankenkasse möglicherweise weniger der medizinische Nutzen als vielmehr eine Substitution und weniger eine medizinische Ergänzung von medizinischen Leistungen aus Kostengründen sein könnte.
Mühlen fehlt insbesondere jedwede Information zum Datenfluss, der bislang nicht nur nicht existiert, sondern wohl auch nicht vorgesehen ist: Keine Information über den Inhalt einer App, was ist mit dem Thema Fortbildungspflicht wie bei Medikamenten und last but not least ist ein Datenaustausch in Form von digitalen Datenbanken bislang auch nicht vorgesehen und es gibt kein Konzept zur Interoperabilität, was ebenfalls im digitalen Zeitalter nicht Up-to-date ist. Während der Datenschutz in Deutschland gut geregelt ist, geht es bei den DiGAs um wichtige Fragen: Wo liegen eigentlich die Datenbanken? Wer hat Zugriff auf die Daten? Werden sie überhaupt ausgewertet und wenn ja, von wem? Muss der Nutzer (Patient und/oder Arzt) seine Zustimmung dazu geben und führt das Ganze dann zu einer Forschung der Versorgung von Patienten? Auch nicht geklärt wurde bislang das Thema Honorierung, denn nicht jede App wird selbsterklärend sein. Wer also ist für die Schulung der Patienten zuständig und wer für die Mitarbeiter einer Praxis? Was ist mit der Honorierung für den zusätzlichen Auswand? Wer hilft bei technischen Problemen – gibt es überhaupt Hotlines der Hersteller? Viele ungeklärte Fragen also, die auch zeigen, dass eine DiGA nicht automatisch die Behandlung vereinfach und Zeit sparen wird. Aber wie immer bei solchen völlig neuen Dingen wird es eine Übergangszeit geben, in der alle Beteiligten lernen werden und sich Lösungen für Probleme zeigen werden.
Mühlen ist der abschließenden Meinung, dass es durchaus sinnvolle DiGAs geben wird, jedoch werden es nur wenige Apps in die dauerhafte Nutzung und Verordnung schaffen – und das auch nur von großen Herstellern. Der Aufwand versus Nutzen muss klar beschrieben und honorarmäßig abgebildet werden und Ärzte müssen entscheiden, ob sie eine App für sinnvoll halten und verordnen oder nicht und das nicht den Krankenkassen überlassen. Zukünftig sollte zudem ein Modul in die strukturierten Schulungen integriert werden, um sinnvolle Apps für die Patienten zu beleuchten.
Fazit: Es gibt die durchaus berechtigte Sorge der Ärzte, dass Hersteller von DiGAs den direkten Weg zu den Krankenkassen suchen könnten und die Ärzteschaft bei diesem Prozess außen vor bleibt. Gleichzeitig bieten sich aber auch Chancen für die Ärzte, denn im Rahmen von selektiven Versorgungsverträgen könnten hier neue Modelle für analoge und digitaler Versorgung entstehen – im Sinne der Diabetologen ebenso wie der Patienten. Erste Diabetes-DiGAs soll es noch in diesem Jahr geben, spätestens aber Anfang 2021. In der Diabetologie gibt es die hervorragende Initiative „DiaDigital“ von Diana Drossel und Matthias Kaltheuner, wo Betroffene, Diabetes-BeraterInnen und Diabetologen gemeinsam den Nutzen einer App bewerten.
DiaTec weekly – November 13, 20
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