Shutterstock.com
Dieser Artikel erscheint als Teil des wöchentlichen Letters zu hochaktuellen Entwicklungen im Bereich Diabetes Technologie. Nutzen Sie das untenstehende Formular um sich für den DiaTec weekly Newsletter anzumelden!
Mit freundlichen Grüßen
Artikel teilen & drucken
Die Selbstmessung von Blut-Glucose (SMBG) durch Patienten mit Typ-2-Diabetes ohne Insulintherapie findet in Deutschland aktuell wenig Beachtung, zumindest hier in unserem weekly. Der Nutzen von SMBG bei dieser Patientengruppe ist ja seit langem heftig umstritten und vor einigen Jahren gab es heftige Diskussionen mit dem IQWiG dazu. Wenn also in unserem Nachbarland Schweiz der Aufwand eines Health Technology Assessments (HTA = eine geeignete Literaturrecherche, d.h. Aufarbeitung) zu diesem Thema durchgeführt wird, sollten wir uns ruhig einmal anschauen, was die Ergebnisse davon sind und was sie möglicherweise für die Situation in Deutschland bedeuten können.
Bei diesem Full-HTA wurden Patientennutzen, Wirtschaftlichkeit und ethische und sozio-rechtliche Aspekte von SMBG untersucht. Die Herausforderung bei solchen „Metaanalysen“ ist ja, welche Studien in die Betrachtung aufgenommen werden und welche nicht! Das Heraussuchen von relevanten Studien verlangt deshalb bei der Literatursuche nach einem strukturierten und systematischen Vorgehen (s. Seite 112 und folgende). Dabei spielt die Anwendung des so genannten PICOS-Schemas (für: Patients, Interventions, Comparators, Outcomes, Study Design, S. 30) eine gewichtige Rolle, weil damit die Selektion von Studien unterstützt wird, um diese Fragestellung geeignet beantworten können. Die Anwendung dieses methodischen Vorgehens stellt sicher, dass die Patientenpopulation ausreichend beschrieben wurde, die Einschlusskriterien erfüllt wurden, die Indikation hinreichend beschrieben wurde, der geeignete Komparator ausgewählt wurde, die gewünschten Outcomes präzise beschrieben wurden und das Studiendesign die Fragestellung adäquat beantworten kann, z.B. durch die Verwendung einer sogenannten Cluster-Randomisierung. Durch Berücksichtigung dieser Aspekte werden diejenigen Studien erkannt, die es erlauben den möglichen Nutzen von SMBG bei Patienten mit T2DM ohne Insulintherapie adäquat zu beurteilen.
Für dieses schweizer HTA wurden also die identifizierten Studien von Fachleuten durchgesehen, passende Angaben und Informationen zu den identifizierten RCTs (randomized controlled trial) extrahiert und sowie quantitative und qualitative Evidenzsynthesen durchgeführt. Für die wirtschaftliche Analyse wurde eine Diabetes-Simulation durchgeführt. In dem englischsprachige HTA wird das Ergebnis dieser aufwändigen Arbeit auf 142 Seiten dargelegt, der Bericht enthält zudem diverse Tabellen und Graphiken.
Die betrachtete Forschungsfrage für dieses HTA lautete: Wie wirkt sich SMBG zusätzlich zur Standardbehandlung aus bei Patienten mit T2DM ohne Insulintherapie im Vergleich zur Standardbehandlung ohne SMBG auf den HbA1c und wie ist die Kostenwirksamkeit? Von 2.882 Suchergebnissen wurden 24 RCTs und 10 ökonomische Studien in die Auswertung eingeschlossen. Der Vergleich verschiedener SMBG-Protokolle der Interventionsgruppen mit keinem, weniger häufigem oder weniger strukturiertem SMBG führt zu einer signifikanten Senkung des HbA1c um -0,29% (95%-CI: -0,40 bis -0,18; 23 RCT; geringe Evidenzqualität). Basierend auf dem verwendeten Modell führt diese HbA1c-Abnahme zu einer geringen, aber signifikanten Verringerung mehrerer diabetesbedingter Komplikationen. Modelliert über einen Zeitraum von 40 Jahren führt SMBG zu einer Verlängerung der Überlebensdauer um 18 Tage (95%-CI: 13 bis 25) und zu einer Zunahme der Gesamtkosten um 2.910 Schweizer Franken (95% -CI: 2.750 bis 3.021). In Studien ohne SMBG in der Kontrollgruppe war die Senkung des HbA1c ausgeprägter (-0,33%; 95%-CI: -0,45 bis -0,21; 17 RCT), jedoch mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für den Nachweis von Hypoglykämien assoziiert (RR 2,10; 95%-CI: 1,41 bis 3,15; 4 RCTs mit hohem Anteil von mit Sulfonylharnstoffen behandelten Patienten; leichte und nicht schwere Episoden; mäßige Evidenzqualität). SMBG erhöht die Wahrscheinlichkeit, „im angestrebten HbA1c-Bereich“ zu sein (RR 2,78; 95%-CI: 1,46 bis 5,31; 5 RCTs; geringe Evidenzqualität).
In den RCTs wurden keine relevanten Unterschiede für psychologische Outcomes festgestellt (z.B. depressive Symptome, Lebensqualität, Patientenzufriedenheit mit der Behandlung [mässige bis hohe Evidenzqualität], Morbidität, Mortalität und unerwartete Ereignisse und Schäden [geringe Evidenzqualität]).
Nur jeder vierte Patient in der Schweiz kaufte im Jahr 2017 SMBG-Teststreifen – und meistens weniger als die maximal erstattete Menge. Eine vollständige Streichung der Rückerstattung von Teststreifen für diese Patienten würde aus Sicht der Schweizer Krankenkassen zu einer Nettoersparnis von 6.09 Millionen Schweizer Franken pro Jahr führen (Budget-Impact). Relevante organisatorische Aspekte sind die sorgfältige Dokumentation der SMBG-Ergebnisse durch Patienten (möglicherweise unterstützt durch Smartphone-Apps) und der angemessene Umgang mit SMBG in schutzbedürftigen Gruppen (z.B. ältere Personen mit Sehstörungen oder eingeschränkten motorischen Fähigkeiten).
Aus gesellschaftsrechtlicher Sicht muss die Beschränkung des Zugangs zu Blutzucker-Teststreifen für bestimmte Patientengruppen auf objektiven Gründen basieren, darf aber keinesfalls einseitig auf Kosten von schutzbedürftigen Gruppen geschehen. Aus ethischer Sicht scheint die Evidenzbasis für die Überprüfung aktueller Best Practices eher gering zu sein: SMBG ist zwar mit einer leichten Verbesserung des HbA1c-Wertes assoziiert, es ist jedoch unklar, inwieweit dieses Ergebnis auch klinisch relevant ist. Auf psychologischer Ebene ermöglicht SMBG eine stärkere Beteiligung der Patienten an der Bewältigung der Krankheit, es gibt jedoch in dieser Zielpopulation keine eindeutigen Hinweise auf verbesserte psychologische Outcomes.
Der HTA enthält diverse spannende Informationen, so steht z.B. auf der Seite 80, dass 75% der Patienten mit T2DM gar keine Tests machen oder angeben, noch Vorräte aus der Packung vor Vorjahr zu haben, während auffallend wenige Patienten mehr als 200 Teststreifen pro Jahr benötigen. In der Schweiz wird es deshalb wohl auf eine Begrenzung von 200 Teststreifen hinauslaufen, allerdings mit einer Reihe von begründeten Ausnahmen. Wenn der Diabetologe einen Antrag für den entsprechenden Patienten stellt, wird diesem wohl in den meisten Fällen stattgegeben. Dies ist eine Lösung, die für die meisten Patienten in der Schweiz besser sein dürfte als die aktuelle Situation.
Unser Fazit:
Ein informativer HTA-Bericht, der auch für Deutschland von Interesse sein dürfte, sollte es mal wieder Diskussionen um die Verordnungsfähigkeit von Teststreifen bei Patienten mit T2DM ohne Insulin gehen. Spannend ist auch die zusammenfassende Tabelle auf S. 108, in der die Vorgaben der Kostenerstattung bei SMBG bei Patienten mit T2DM in anderen europäischen Ländern vergleichend dargestellt werden. Wer mehr lesen möchte, hier ist der Link zum HTA
DiaTec weekly – Jul 3, 20