Zunächst mal ist dies eine Frage der Begrifflichkeit, denn aktuell gibt es viele Namen für das mehr oder weniger gleiche Verfahren zur „technischen Heilung“ des Diabetes: Automatische Bauspeicheldrüse (AP), Automatische Insulindosierung (AID), Advanced Hybrid Closed Loop oder auch nur Closed Loop, künstliche Bauchspeicheldrüse oder Pankreas … eine Reihe von irreführenden Begriffen geistert da herum. Korrekterweise sollten die Systeme wegen der „Automatischen Insulin-Dosierung“ auch so heißen – und in der Kurzform AID-Systeme. Dafür plädierte Lutz und begann sein Pro-Statement damit, dass sich die zunehmende Bedeutung dieses Themas an dem steilen Anstieg der Anzahl der Publikationen dazu pro Jahr ablesen lässt.
Inzwischen passiert viel Wissenschaft, viele Studien laufen und viel Geld wird in diesen Bereich investiert. In Deutschland sind aktuell Systeme der amerikanischen Firmen Medtronic und Tandem verfügbar, aus Europa kommt der französische Hersteller Diabeloop in Zusammenarbeit mit Roche hinzu. Insgesamt ist dies ein hochdynamischer Bereich, indem wir längst nicht am Ende der Entwicklung stehen, sondern erst am Anfang. Weitere Systeme sind in der Entwicklung und mit ziemlicher Sicherheit werden einige in den nächsten Jahren auf den Markt kommen.
Was wollen wir eigentlich erreichen? Diese rhetorische Frage beantwortete er mit physiologischen Verbesserungen bei den Diabetes-Patienten: Schwankungen im Glucoseverlauf sollen reduziert werden, die Glucosewerte sollen sich größtenteils in der TiR-Zone (Time-in-Range) befinden und schwere hypo- bzw. hyperglykämische Events sollen möglichst ganz verhindert werden. „Flat, Narrow and In-Range“ so lautet der Fachbegriff dafür.
Die Bedeutung von AID-Systemen wächst auch in Deutschland in der Wahrnehmung der Diabetologen kontinuierlich, hier verwies Lutz auf den D.U.T.-Report, der im Vergleich zu beispielsweise Apps deutlich zeigt, dass AID-Systeme aus der Diabetes-Technologie als wichtiger angesehen werden und auch, dass die Bedeutung davon für die Schwerpunkt-Diabetologie zunimmt – auch wenn die Betreuung der Patienten komplexer werden wird, der Schulungsaufwand höher und zeitintensiver. Inzwischen zeigen eine ganze Reihe von Studien, dass sich die Diabetes-Therapie mit Einsatz von Technologie deutlich verbessert, die angestrebten Zielwerte in einem höheren Maße erreicht werden, schwere akute Events ab- und die TiR-Werte zunehmen. Diabetes-Technologe gewährt dem behandelndem Diabetologen einen intensiveren Einblick in den Therapieerfolg.
Zukünftig werden sich die Algorithmen sogar auf den individuellen Patienten einstellen und ihm damit die tägliche Therapie vereinfachen. Als letzten Punkt erwähnt Lutz die Ökonomie und sieht durchaus Einsparpotential durch Verbesserungen in der Therapie und dadurch weniger diabetes-bedingte Folgeerkrankungen, möglicherweise langfristig auch weniger Betreuungsaufwand für die Patienten.
Sandra Schlüter vertrat anschließend den Kontra-Part. Sie nahm zunächst Bezug auf den Titel der Veranstaltung (Künstliches Pankreas – Heilung oder Humbug?) und ging auf den Begriff „Humbug“ ein. Dieser klingt umgangssprachlich erstmal abwertend, ist aber etwas, das sich zwar bedeutsam gibt, aber Schwindel ist. Um Technik sicher anwenden zu können, muss man die Pro UND Contra-Seiten eines jeden AID-Systems kennen, so Sandra. Aktuell ist die Realität aber noch so, dass der technik-affine Patient zwar eine Reihe von Geräten an sich hängen hat, mit denen er im Alltag zurechtkommen muss, gleichzeitig wird die physiologische Glucosekontrolle aber nur unzureichend abgebildet. Weder ist der Abgabeort des Insulins korrekt – anstatt ins Blut wird es in das Fettgewebe gepumpt – noch wird die Glucose im Blut gemessen, sondern in der zellumgebenden Flüssigkeit im Unterhautfettgewebe mit entsprechender Verzögerung. Auch der Gegenspieler des Insulins, das Glucagon, fehlt bei den aktuellen AID-Systemen noch völlig. Vergleichbar sei die Situation mit dem Autofahren: Wenn ich eine halbe Stunde vor dem Abbiegen den Blinker setze, verursache ich nur Chaos auf der Straße.
Überhaupt sieht sie in den fehlenden Standards für die einzelnen Komponenten eines jeden AID-Systems das größte Problem beim Einsatz von Technologie für die Diabetes-Therapie: Es fehlen Standards an allen Ecken und Enden, bei der Schulung ebenso wie bei der Beantragung einer Kostenübernahme oder bei der Therapie. Auch gibt es für die Evaluierung der Messgüte von CGM-Systemen nach wie vor – und anders als SMBG-Systemen – keine DIN ISO-Norm. Es gibt also keine internationale Referenzmethode, an der sich die CGM-Geräte messen lassen müssen. Auch ganz normale Alltagsfragen wie z.B. wie genau ist eigentlich die Abgabemenge des Insulins aus meiner Pumpe?, lassen sich nicht einfach beantworten. Hinzu kommt, dass der Begriff „Künstliche Bauchspeicheldrüse“ suggeriert, dass ein AID-System die technische Übernahme für die Steuerung der Glucoseverläufe vollständig übernimmt und der Patient sich um nichts mehr kümmern muss.
Reicht das alles aus für die Steuerung eines Algorithmus, der darauf angewiesen ist, dass der Menschen, der an ihm dranhängt, dies schon irgendwie geregelt bekommt? Der zeitliche Aufwand und das technische Know-How verlangen dem Nutzer eines AID-Systems schon einiges ab. Da piept es zu Unzeiten, es tauchen regelmäßig Fehlermeldungen auf, Batterien und Katheter müssen gewechselt werden und irgendwas ist immer. Diabetes-Patienten, die sich für ein AID-System entscheiden, müssen wissen und akzeptieren, dass sie sich nach wie vor um ihren Diabetes kümmern müssen, wenn auch auf eine etwas andere Weise. Zumindest muss der Patient sein System verstehen lernen, z.B. wie der Algorithmus im Prinzip funktioniert.
Letzter Punkt von Sandra war die Frage nach einem ausgewogenen Kosten-Nutzen-Verhältnis: Reicht die vorhandene Evidenz aus für eine Kostenübernahme der doch recht teuren Systeme und ist der Nutzen ausreichend belegt? Auch hier hinkt das Beantragungssystem der technologischen Entwicklung hinterher, im Prinzip kann man in Deutschland aktuell nicht mal ein AID-System als solches beantragen, damit die Kosten übernommen werden.
Insgesamt liegt also noch vieles im Argen und so sieht Sandra die Entwicklung für AID-Systeme aktuell auch noch ganz am Anfang. Bis zu einer „echten“ künstlichen Bauchspeicheldrüse ist es noch ein langer Weg, aber Technik ist immer im Fluss und anpassen müssen wir uns.
Wie immer bei den Dia:cussions durften die Zuhörer über bestimmte Fragen abstimmen und über den Chat mitdiskutieren. Auf die erste Frage: Haben Sie bereits Patienten mit AID-Systeme in der Betreuung?, gaben immerhin 40% der Schwerpunktpraxen an, bereits Patienten mit AID-Systemen zu betreuen, während 60% dies noch nicht tun. Von einer echten Massenverbreitung kann man da also noch nicht sprechen.
Eine weitere Frage lautete: Bleiben die Systeme eher für die Nische oder werden sie sich etablieren? 55% glauben ja, während 12% antworteten: Nein, weil zu komplex. Ein Drittel etwa meint vielleicht, aber nur wenn klare Strukturen dafür geschaffen werden.
Als Resümee stellten beide Kontrahenten fest, dass vor dem Einsatz eines AID-Systems ein hoher Beratungsaufwand erforderlich ist und während der Einlaufphase ein ebenso hoher Schulungsaufwand. Viele Patienten sind aber dazu bereit, denn was sich tatsächlich erheblich durch das Tragen eines AID-Systems verbessert, sind die Nächte. Fast alle Patienten mit Diabetes können endlich mal wieder durchschlafen. Insgesamt war es eine spannende Diskussion mit vielen bedenkenswerten Aspekten, wenn auch weniger eine Pro-Con- als vielmehr eine „Sowohl-als-Auch-Diskussion und der abschließenden Feststellung: Es gibt noch viel zu tun…
Hier die nächsten Termine der Dia:cussions:
- 05.2021: Die digitale Diabetespraxis von morgen: Wo bleibt der Mensch?
- 06.2021: Digitale Prävention des Typ-II-Diabetes: Jetzt oder nie?!
DiaTec weekly – Mai 7, 21
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Mit freundlichen Grüßen
Sehr geehrter Herr Prof. Heinemann,
wie immer, habe ich mit großem Interesse Ihren Bericht zur künstlichen Bauchspeicheldrüse im aktuellen Newsletter gelesen. Sie beziehen sich hier drin auf bereits verfügbare Systeme von Medtronic, Tandem und demnächst von Roche.
Leider erwähnen Sie das System von Camdiab mit dem Namen CamAPS FX erneut in keinem Wort. Obwohl hierzu eine sehr umfangreiche Studienlage mit hervorragenden Ergebnissen existiert, dieses seit vielen Jahren an europäischen Universitätskliniken für die Diabetestherapie eingesetzt wird und seit März 2020 von geeigneten Diabetikern europaweit eingesetzt werden kann, scheint es in Deutschland keine Beachtung zu finden? Gerade für den Bereich der Kleinkinder (2 bis 6 Jahre) ist dieses System aktuell die einzig verfügbare AID Alternative und sollte gerade deshalb in einem Atemzug mit den von Ihnen genannten Systemen genannt werden.