Für die Publikation im New England Journal of Medicine (NEJM) publizierten (Hillier T et al. N Engl J Med 2021;384:895-904) wurde eine randomisierte, klinische Studie (ScreenR2GDM) mit schwangeren Frauen in den USA durchgeführt, die dort bei einer großen Krankenversicherung eingeschrieben sind und darüber auch medizinisch betreut werden. Die 23.792 Frauen wurden zufällig entweder dem einzeitigen oder zweizeitigen Vorgehen zugeordnet mit einer geplanten Auswertung nach dem Intention-to-Treat-Prinzip (ITT). Bei dem einzeitigen Vorgehen (n = 11.922, Adhärenz 66%) erhielten die Schwangeren nüchtern eine Lösung mit 75 g Glucose zu trinken und wurden dann als GDM klassifiziert, wenn mindestens ein Wert die Kriterien erfüllte (0 min >92 mg/dl (5,1 mmol/l), 1 h >180 mg/dl (10,0 mmol/l), 2 h >153 mg/dl (8,5 mmol/l)). Beim zweizeitigen Vorgehen (n = 11.870, 92%) erhielten die Schwangeren zunächst eine Lösung mit 50 g Glucose im nicht-nüchternen Zustand. Lag der Plasma-Glucosewert nach 1 h bei 130 mg/dl (7,2 mmol/l) oder 140 mg/dl (7,8 mmol/l), folgte einige Tage später (bei ca. 20%) eine 100 g Glucose-Belastung über 3 h mit folgenden Grenzwerten, wobei 2 der 4 Werte für eine GDM-Diagnose erreicht sein mussten (Carpenter-Coustan-Kriterien) (0 min >95 mg/dl (5,3 mmol/l), 1 h >180 mg/dl (10,0 mmol/l), 2 h >155 mg/dl (8,6 mmol/l), 3 h >140 mg/dl (7,8 mg/dl)). Die Ergebnisse von ScreenR2GDM belegen, dass mit dem einzeitigen Vorgehen im Vergleich zum zweizeitigen Ansatz sich die GDM-Prävalenz verdoppelt, ohne dass sich mütterliche oder neonatale Komplikationen verbessern ließen. In 39% der Fälle wurde beim einzeitigen Vorgehen die Diagnose ausschließlich mit den Nüchternwert gestellt, und von diesen Werten lag die Hälfte mit 92-94 mg/dl (5,1-5,2 mmol/l) unterhalb des Zielwertes für die Therapie von <95 mg/dl (5,3 mmol/l). In beiden Gruppen waren die medikamentösen Therapien mit 42,6% vs. 45,6% hoch (davon 95% mit Insulin), zeigten aber keine statistisch signifikanten Unterschiede. Das heißt: In der einzeitigen Gruppe wurden fast doppelt so viele Frauen mit Insulin therapiert – ohne Vorteil. Das einzeitige Vorgehen beruht auf den Empfehlungen der „International Association of Pregnancy Study Group“ (IADPSG) von 2010. Die WHO übernahm diesen Vorschlag 2013 kurioserweise gleich für die gesamte Schwangerschaft, wovon sich IADPSG-Repräsentanten später distanzierten. Die US-amerikanischen Institutes of Health (NIH) erklärten nach einer Konferenz 2013, dass eine unzureichende Beweislage vorliege, ein einzeitiges Vorgehen ohne 50-g-Vortest zu empfehlen. Denn zu diesem Zeitpunkt wusste man bereits, dass sich die GDM-Prävalenz mit diesem Vorgehen mindestens verdoppeln würde, was sich weltweit bestätigte. Seit Einführung der IADPSG-Kriterien in Deutschland 2012 ist z.B. die GDM Prävalenz bis 2019 absolut um 85% gestiegen, obwohl – ohne adäquate Beweislage – die verbindlichen Mutterschaftsrichtlinien dem einzeitigen Verfahren ein 50-g Screening obligatorisch voranstellen.
Nur wenige Tage nach der Publikation von ScreenR2GDM publizierte eine andere Autorengruppe ein Editorial zu diesem Thema in Diabetes Care und forderten eine randomisierte kontrollierte Therapiestudie (Bilous R, Jacklin P, Maresh M et al. Diabetes Care 2021;44:858-864). Die Autoren feststellten fest, dass der Anstieg der GDM-Prävalenz nach Einführung der IADPSG/WHO-2013-Kriterien den Ausgang der Schwangerschaft nicht substantiell verbessert hat, verglichen mit den Epochen, als strengere Kriterien zu einer deutliche geringeren Populationsprävalenz des GDM führten. Sie fordern, alle Anstrengungen durch Lebensstilveränderungen nach Erstvorstellung der Schwangeren zu unternehmen, um GDM gar nicht erst entstehen zu lassen.
Im Editorial zu ScreenR2GDM durch den Geburtsmediziner Brian Casey aus der Universitäts-Frauenklinik in Birmingham/Alabama (USA) wird darauf hingewiesen, dass die IADPSG-Kriterien (im einzeitigen Test) hinsichtlich der perinatalen Ergebnisse insuffizient sind, die Ausweitung der GDM-Diagnose und die damit zusammenhängenden Kosten für die Frauen und das Gesundheitssystem zu rechtfertigen. Vielmehr verspricht sich Casey einen substantiellen Vorteil, wenn Frauen im reproduktiven Alter Interventionen angeboten werden, die ihr Diabetesrisiko reduzieren. Das belegen auch die deutlich besseren „Number needed to treat“ (NNT von 10-20 im Vergleich zu den perinatalen Vorteilen einer GDM-Therapie für nur wenige Wochen in der Schwangerschaft. GDM ist in erster Linie eine Erkrankung der Mutter mit gut untersuchten Langzeitrisiken hinsichtlich Diabetesmanifestation und kardiovaskulären Endpunkten, wie Herzinfarkt oder Schlaganfall.
Fazit: Insgesamt zeigt die „ScreenR2GDM“-Studie, dass mit dem zweizeitigen Vorgehen etwa die Hälfte weniger GDM-Diagnosen gestellt werden und 45% weniger Schwangere mit Insulin behandelt werden – ohne Nachteile für Mütter und Kinder. Dies war die Situation bei der GDM-Diagnose wie vor 60 Jahren. Dies muss kein Nachteil sein. Auf dem Weg zu einer evidenzbasierten GDM-Diagnostik auf der Basis randomisierter Therapiestudien sind wir jetzt schon einen entscheidenden Schritt weiter.
Dr. Helmut Kleinwechter, Kiel
DiaTec weekly – März 26, 21
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