Herzlich willkommen beim diatec weekly,
der Haupteingang liegt am Wasser. Dort, wo seit jeher die Boot anlanden und die Mythen entstanden, wo Odysseus zehn Jahre lang herumirrte und wo sich die Zivilisation entwickelte – am Mittelmeer. Von hier aus betreten wir die Vorhalle, so wie es seit Jahrhunderten Händler, Pilger und Flüchtlinge getan haben. Über die älteste Schwelle gehen wir in die Räume unserer Kultur. Im Erdgeschoss finden wir mit Griechenland einen Saal voller Mythen aus Marmor und eine Antikensammlung aus Philosophie und Demokratie. Es riecht nach Staub und Ewigkeit und man versteht plötzlich, warum die Philosophie nie aus der Mode kam: Hier nahm das Denken seinen Anfang. Im Raum gleich nebenan liegt die Renaissance: Italien mit seinen Leonardos, Michelangelos und Raffaels. Der Mensch tritt aus dem Schatten des Mittelalters und entdeckt die Perspektive. Spanien hängt in dunklen Farben mit Velázquez und El Greco und präsentiert die düstere Pracht der Macht und die Dunkelheit des Glaubens und in einem schmalen Seitenflügel schließlich liegt Portugal mit seinen Seekarten, dem Rauschen der Weltmeere und den Erinnerungen an die Zeit der großen Entdeckungen.
Eine Treppe höher wird es leidenschaftlicher, hier befindet sich das 19. Jahrhundert. In Deutschland wandert die Seele über weite Felder und malt seine Romantik in Nebel und Mondlicht. Caspar David Friedrich, Schumann und Goethe pinseln Einheit und bringen Sehnsucht und System. Österreich, ein prachtvoller Saal voller Kronleuchter glänzt im goldenen Jugendstil. Das Habsburger Reich zeigt sich als Gesamtkunstwerk aus Musik, Melancholie und Wiener Kaffeehauskultur, während im Hintergrund schon das Knistern der Dekadenz beginnt. Frankreich platzt mit Delacroix und Courbet vor Farbe und Revolution, bis mit dem Aufstand der Freiheit das Selbstbewusstsein der Moderne beginnt. Der osteuropäische Flügel mit Tschechien, Ungarn und Polen ist geprägt von der Suche nach Identität und Unabhängigkeit und wird getragen von Musik und Literatur. Überall in diesem Stockwerk vibriert es. Europa erfindet sich – und verliert sich wieder. Das Nationalbewusstsein entsteht, aber auch die Zerrissenheit.
Im zweiten Obergeschoss wird es laut und modern, eine Explosion aus Ideen. Die Impressionisten mit Monet, Renoir und Degas ersetzen das Sehen durch Empfindung. Der Kubismus, Dada, das Bauhaus und der Futurismus brechen Formen und lösen Linien auf und aus den Niederlanden kommen mit van Gogh und Mondrian Geometrie und Leidenschaft ins Spiel. In Paris, Berlin, Moskau und Zürich wohnt der Mut zum Neuen, aber auch das Vorzeichen der Zerstörung. Die russische Abteilung schließlich zeigt Konstruktivismus, Revolution und das große Versprechen einer Utopie, die sich später verdunkelt. Das zweite Obergeschoss ist der Teil des Museums, in dem man nicht weiß, ob man staunen oder frösteln soll.
Und ganz oben dann, unter dem Glasdach, betreten wir mit skandinavischer Klarheit, mediterraner Lebenslust und britischem Zynismus die Gegenwart. Manche Räume sind leer, andere voller Widersprüche. Explosionen aus Ideen und Entwürfen, eine Collage, die Europas Zauber mit der Unfertigkeit widerspiegelt, im ständigen Kuratieren der eigenen Geschichte. Skandinavien zeigt mit Minimalismus, Licht und Nachhaltigkeit eine stille Schönheit, die ganz und gar demokratisch gedacht ist. Deutschland stellt die Wiedervereinigung aus als Kunstinstallation mit Trümmern aus Architektur und Erinnerungen. Und schließlich ist da Großbritannien mit einer ganzen Abteilung, die sich permanent selbst umbaut – in Räume zwischen Tradition und Brexit, Punk und Tate Modern, Mode und Musik, Tradition und Avantgarde.
In allen Räumen spazieren Touristen, Studierende, Migranten und Suchende. Manche bleiben stehen, andere gehen weiter und alle gehören dazu. Draußen, im Museumshof, entstehen neue Pavillons. Die Ukraine, Georgien und das Baltikum sind junge Räume mit offenen Türen. Man geht hinein und ist noch unschlüssig, was daraus werden soll. Im Hof wird fleißig an der Skulpturengruppe „Europäische Union“ gebaut. Noch ist sie unvollendet und steht bei Wind und Wetter mit offenen Fugen, aber es wird! Ist zumindest die Hoffnung.
Europa als Museum also. Nicht selten wird es so bezeichnet und als wir vor einigen Jahren von einem drei-wöchigen China-Trip zurückgekommen sind, hatten auch wir das verstörende Gefühl, in einem Museum zu leben, angesichts der rasanten und kühnen Entwicklungen im Land der aufgehenden Sonne. Liegt unsere große Zeit also bereits hinter uns? Warum spielen wir im aktuellen Weltgeschehen kaum noch eine Rolle und werden nur noch als Absatzmarkt gesehen, eingequetscht zwischen China im Osten und den Tech-Giganten im Westen? Wie konnten wir zulassen, uns so dermaßen im bürokratischen Dickicht und im Klein-Klein der Verordnungen zu verheddern? Wo bleiben die kühnen Ideen, die großen Entwicklungen, zu denen wir doch in unserer abendländischen Entwicklung immer fähig gewesen sind? Wo ist unser Mut geblieben?
Vielleicht liegt aber auch genau darin Europas Stärke, bei all seinen Widersprüchlichkeiten, seinen kulturellen Unterschieden und seiner Großartigkeit. Nicht im Perfekten, sondern im Prozess. Nicht im abgeschlossenen Werk, sondern als eine Werkstatt der Vernunft. Europa als ein Ort der Möglichkeiten. Als ein Ort, an dem die Besucher mehr als Teil der Ausstellung sind. Noch halten wir ein paar Trümpfe in der Hand. Aber die großen Themen für die Zukunft, die werden momentan woanders behandelt.
Die Themen der Woche: Wir stellen einen Beitrag zur CGM-Datenanalyse 2.0 vor, haben weitere Studien zu AID-Systemen bei verschiedenen Patientengruppen vom EASD und enden mit SmartPilot, einem smarten Begleiter für die Injektionstherapie. Auf geht’s!
Nach Jahren stabiler Standards erlebt die CGM-Datenanalyse nun einen Technologiesprung – KI machts möglich. Maschinelles Lernen und funktionale Datenanalyse versprechen, die bisherige „TIR-Logik“ abzulösen und Glucoseverläufe erstmals individuell zu verstehen. Was das konkret bedeutet, zeigen Klonoff und Kollegen in einem viel beachteten Fachkommentar:
CGM-Datenanalyse 2.0 – wenn KI, ML und LLMs den Glucoseverlauf neu denken
In der US-Fachzeitschrift Journal of Diabetes Science and Technology wurde kürzlich ein umfassender Kommentar zu einem neuen Ansatz in der CGM-Datenanalyse veröffentlicht [1]. Darin zeigen David Klonoff und mehrere renommierte Kolleginnen und Kollegen, dass das kontinuierliche Glucosemonitoring (CGM) in eine neue Evolutionsphase eintritt. Der Wandel markiert den Übergang von klassischen Kennzahlen wie Zeit im Zielbereich (TIR), mittlerem Glucosewert, Glucosemanagement-Indikator (GMI), Variationskoeffizient (CV) oder Glykämie-Risikoindex (GRI) hin zu datengetriebenen, KI-gestützten Verfahren wie
Die automatisierte Insulindosierung (AID) entwickelt sich rasant weiter – und erreicht zunehmend Patientengruppen, die bislang als besonders herausfordernd galten: Kleinkinder, Schwangere, Menschen nach Pankreatektomie oder mit chronischer Nierenerkrankung. Auf dem diesjährigen EASD wurden zahlreiche Studien vorgestellt, die eindrucksvoll zeigen, wie sicher und wirksam moderne AID-Systeme inzwischen auch in diesen komplexen Situationen sind:
AID bei verschiedenen Patientengruppen – Daten vom EASD 2025
Mehrere aktuelle Studien belegen, dass AID-Systeme die Glucosekontrolle bei schwangeren Frauen mit Typ-1-Diabetes (T1D) verbessern können. Doch welches System schneidet im direkten Vergleich am besten ab? Eine spanische Kohortenstudie liefert nun erste Hinweise. Es wurden gleich mehrere Präsentationen zur Nutzung von AID-Systemen während der Schwangerschaft vorgestellt – einem Einsatzgebiet, das zunehmend in den Fokus rückt. Frühere randomisierte Studien hatten bereits gezeigt, dass sich die Glucosekontrolle schwangerer Frauen mit T1D durch AID-Systeme verbessern lässt. Bisher fehlten jedoch direkte Vergleichsdaten zwischen den einzelnen Systemen.
SmartPilot ist ein wiederverwendbares, digitales Zusatzmodul, das Echtzeitdaten vom YpsoMate-Autoinjektor erfasst und über Bluetooth an das Smartphone des Nutzers überträgt. So werden Parameter wie Uhrzeit, Datum und Injektionsverlauf automatisch dokumentiert und können sowohl dem Patienten als auch – bei Bedarf – dem behandelnden Team bereitgestellt werden:
Ein smarter Begleiter für die Injektionstherapie – SmartPilot
Das Gerät wurde speziell für die Anwendung mit Einweg-Autoinjektoren entwickelt, die zur subkutanen Gabe von Biologika und kleinen Molekülen bei chronischen Erkrankungen wie Autoimmun-, Herz-Kreislauf-, Adipositas- und Onkologie-Indikationen eingesetzt werden.
Das Bild der Woche
Ein großer Tag der Freude war der vergangene Montag für Familien, Partnern, Eltern, Kinder
und Freunde der letzten 20 überlebenden Geiseln. Nach 738 Tagen, die sie in Enge, Dunkelheit
und Todesangst verbracht haben, durften sie endlich – erschöpft und ausgemergelt – nach Hause.
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Zum Schluss noch wie immer das Letzte
Zürich, Herbst 2025. Eine junge Frau in silbernem Kleid steigt die Stufen des Filmfestivals hinauf. Blitzlichtgewitter, Journalisten, Mikrofone. „Wie fühlen Sie sich, Tilly?“, ruft jemand. „Aufgeregt“, sagt sie und lächelt in die Kameras. Alles wirkt echt. Sehr echt sogar.
Doch Tilly Norwood existiert nicht. Sie ist eine digitale Schauspielerin, ein Code aus Algorithmen, Texturen und Trainingsdaten, erfunden und erschaffen vom britischen Produktionsstudio Particle6. Dieses Studio wurde gegründet von der Physikerin und Filmemacherin Eline van der Velden, eine Holländerin mit Wohnsitz London. Van der Velden hat ein „Talentstudio“ geschaffen, das nicht mal mehr mit, sondern für künstliche Schauspieler arbeitet. Dort werden Avatare mit Namen, Biografien und Stimmen ausgestattet, die eigenständig agieren können – im Film, in Werbespots, in Social Media. Die Technik dahinter trägt den bezeichnenden Namen: DeepFame.
Die Idee, Schauspieler zu ersetzen, ist nicht neu. Hollywood hat schon lange mit digitalen Doubles, Deepfakes und Hologrammen experimentiert. Doch diesmal geht es nicht um technische Tricks, sondern um die Ablösung des Originals. Das Versprechen klingt betörend: Schauspieler, die nicht altern, nie müde werden, nie streiken, mit Emotion auf Knopfdruck und perfekter Mimik im Dauerbetrieb. Ihre Figuren lassen sich auf Knopfdruck in zwanzig Sprachen synchronisieren und sie sind billig, skalierbar und kontrollierbar, drei Eigenschaften, die in der Filmbranche selten zusammenkommen. Wo früher Drehtage, Flüge, Hotels und Gagen das Budget bestimmten, reicht heute ein Server mit Zugang zu einem neuronalen Netzwerk. Was bislang das Drehbuch war, wird jetzt zur Eingabeaufforderung und Regie zu führen bedeutet, Daten zu kuratieren.
Hollywood reagiert entsetzt! Als Tilly Norwood auf dem Zürcher Festival auftauchte, schwankte die Stimmung zwischen Faszination und Panik. Schauspielerinnen wie Emily Blunt sprachen von einer „Entseelung der Kunst“, die Gewerkschaft SAG-AFTRA warnte vor einer Zukunft, in der „Schauspiel“ nur noch Simulation sei. Dabei ist Tilly freundlich, charmant, fast zu sympathisch. Sie ist programmiert, zu gefallen. Und gerade das macht sie gefährlich.
Was passiert, wenn man Emotion nicht mehr fühlt, sondern errechnet? Vielleicht wird dann deutlich, dass Authentizität kein Zustand, sondern ein Effekt ist. Wenn wir in einer Figur Trauer, Liebe oder Wut erkennen, liegt das weniger an ihrem Menschsein als an der Kohärenz ihrer Gesten. Und die lassen sich digital erzeugen – vielleicht präziser, als wir glauben.
Doch etwas geht verloren, das sich schwer benennen lässt: jene kleine Unsicherheit, die jede menschliche Darstellung in sich trägt. Ein leises Zittern in der Stimme, das ungewollte Zucken der Gesichtsmuskulatur, das Unperfekte – das, was uns berührt, weil es echt ist. In der makellosen Welt der KI verschwindet diese Reibung. Es bleibt eine glatte Oberfläche des Gefühls und eine Art emotionaler Plastikglanz.
Dazu kommen Fragen, auf die es noch keine Antworten gibt. Wem gehört das Gesicht eines KI-Avatars, wenn es einem echten Menschen ähnelt? Wer entscheidet, welche Rollen eine virtuelle Schauspielerin spielen darf? Und wer haftet, wenn ihr digitaler Mund plötzlich etwas sagt, was niemand autorisiert hat? Hollywood steht vor einer paradoxen Situation: Während echte Schauspieler ihre Rechte verteidigen, drängen ihre digitalen Ebenbilder auf die Bühne, mit Verträgen, die nie verfallen, und Gesichtern, die nie altern.
Vielleicht ist das alles nur die nächste Stufe einer langen Entwicklung. Vom Stummfilm zum Tonfilm, von der Leinwand zum Streaming, vom Make-up zur Motion Capture. Jede technische Revolution hat die Schauspielkunst erweitert, nicht zerstört. Vielleicht wird auch die KI nur ein weiteres Werkzeug. Vielleicht bleibt sie das, was Film schon immer war: eine große, gemeinsame Illusion.
Tilly Norwood bleibt ein Menetekel. Sie ist schön, makellos, höflich und leer. Hinter ihr ist kein Lampenfieber, kein Lampenlicht, nur Rechenleistung. Aber wenn sie spricht, glauben wir ihr. Vielleicht ist genau das der beunruhigendste Gedanke überhaupt.
Das war’s für die Woche. Wir machen eine kurze Herbstpause und melden uns Anfang November zurück. Zum Abschluss gibt es noch ein wunderschönes Gedicht von Rilke zu Herbst:
Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Wir wünschen Ihnen ein schönes Wochenende und grüßen herzlich,
Dieser Artikel erscheint als Teil des wöchentlichen Letters zu hochaktuellen Entwicklungen im Bereich Diabetes Technologie. Nutzen Sie das nebenstehende Formular um sich für den diatec weekly Newsletter anzumelden!
Mit freundlichen Grüßen