Im ersten Vortrag schilderte David Kerr aus Santa Barbara, Kalifornien, USA die dortige Situation. Sieben Millionen Amerikaner applizieren sich täglich Insulin, und einer zunehmenden Zahl von Menschen mit Diabetes werden andere Arten von subkutan zu applizierenden Medikamenten verschrieben. Ebenso wechselt ein wachsender Anteil der 1,6 Millionen Menschen mit Typ-1-Diabetes, alle zwei Wochen den Sensor ihres CGM-Systeme, darunter die Mehrheit der 350.000 Nutzer von Insulinpumpen. Zu erwarten ist zudem, dass der Markt für solche Medizinprodukte weiter stark wachsen wird.
Aus ökologischer Sicht besteht die Kehrseite des allgegenwärtigen Einsatzes solcher Produkte in den negativen Auswirkungen, die sich aus der damit verbundenen Menge an (Plastik-)Abfall ergeben. Dieser Abfall kann nach Art der Materialien (z. B. recycelbar oder nicht-recycelbar) und dem Risiko für die menschliche Gesundheit (z. B. durch Nadelstichverletzungen oder Kontakt mit Körperflüssigkeiten) unterschieden werden. In den USA ist die Handhabung solcher Abfälle von Bundesstaat zu Bundesstaat unterschiedlich – in Kalifornien zum Beispiel regelt das dortige Gesundheitsministerium solche medizinischen Abfälle.
Die Kosten für die Entsorgung dieser Abfälle werden auf 5 bis 16% der Ausgaben im Gesundheitswesen geschätzt. Angesichts der zunehmenden Besorgnis über Umwelt- und Klimaveränderungen sollten alle Akteure in der Diabetesbehandlung ein großes Interesse an der Entwicklung kreativer neuer Ansätze zur Verringerung der Auswirkungen aller Formen von Abfällen haben. Zu diesen Interessengruppen gehören die pharmazeutische und medizintechnische Industrie, Angehörige der Gesundheitsberufe, Kostenträger, politische Entscheidungsträger und die Menschen, die mit Diabetes leben. Damit solche Ansätze erfolgreich sein können, gilt es ein neues Bewusstsein in Bezug auf die Transparenz der Umweltbelastung durch die Diabetesbehandlung zu entwickeln. Ferner muss sichergestellt werden, dass ökologische Fortschritte mit sinnvollen Belohnungen und nicht mit zusätzlichen Kosten für den Endverbraucher einhergehen.
Lutz Heinemann aus Düsseldorf beleuchtete diese Situation aus einem europäischen Blickwinkel. Auch in der EU steigt die Verwendung von medizinischen Produkten, z.B. von CGM-Systemen, deutlich an. Den bekannten Vorteilen davon, wie eine Verbesserung der Glucosekontrolle und eines flexibleren Lebensstils, stehen neben den Kosten auch der Nachteil der Menge an Abfall gegenüber. In der EU ist es der erklärte politische Wille, den Plastikmüll insgesamt drastisch zu reduzieren. Deshalb hat die EU-Kommission mehrere entsprechende Verordnungen erlassen, die sich derzeit vor allem mit Einwegartikeln aus Kunststoff wie Plastiktüten, Einmalartikeln für Lebensmittel etc. befassen; letztlich muss aber auch die Situation bei Medizinprodukten (die oft von solchen Überlegungen ausgenommen sind) verbessert werden.
In der nun geltenden Verordnung über Medizinprodukte (MDR) ist eindeutig festgelegt, dass die Gestaltung von Medizinprodukten so sein sollte, dass die Abfallproduktion reduziert oder sogar vermieden wird. Man kann sich vorstellen, dass solche Vorgaben bald noch strenger werden, es gibt eine Kommission, die die Aussagen der MDR in gewissen Abständen interpretiert und an den aktuellen Bedarf anpasst. Viele Hersteller von Medizinprodukten für die Diabetestherapie sind außerhalb der EU angesiedelt; aber auch diese müssen die EU-Anforderungen erfüllen. Angesichts der langen Zeiträume, die für die Umstellung von Herstellungslinien bzw. die Entwicklung neuer Produkte benötigt werden, liegt es auf der Hand, dass die Hersteller solche Änderungen bereits in Betracht ziehen und umsetzen, deren praktische Auswirkungen aber Zeit benötigten.
Patienten mit Diabetes und die sie behandelnden Diabetes-Teams werden immer sensibler für die angesprochenen Umweltaspekte. Dies übt auch Druck auf die Hersteller aus, die Menge an Abfällen zu reduzieren und wo möglich die Inhaltsstoffe der Produkte zu recyceln. Auf Länderebene gibt es in der EU einiges an spezifischen Aspekten und Aktivitäten hierzu, z.B. das Recycling von Pens in Dänemark oder von Patch-Pumpen in Frankreich. Noch gibt es allerdings bisher keine EU-weite Initiative hierzu im Bereich Diabetes und leider fehlt bislang auch eine koordinierende Aktivität, z. B. durch die europäische Fachgesellschaft. Dies gilt auch für Patientenvereinigungen wie IDF-Europe.
Was auf praktischer Ebene sofort getan werden kann, ist die Bereitstellung geeigneter Informationen/Schulungen für Patienten mit Diabetes über den Umgang mit dem anfallenden (Plastik-)Abfall. Aufgrund der Aktivitäten in den USA, z.B. die Green Diabetes Declaration, in der allen Beteiligten konkrete Aufgaben gestellt werden, sollte diese Erklärung an die EU-Situation angepasst werden. Im nächsten Schritt sollte eine Task Force eingerichtet werden, die die Aktivitäten in der EU koordiniert und vorantreibt.
Matthias-Axel Schweitzer von der Firma Novo aus Mainz unterteilte die Frage „Wie können die Hersteller umweltfreundlicher werden?“ in mehrere Unterfragen, wie „Gibt es ein Problem?“, „Wird das Problem verstanden und angegangen?“, „Gibt es Strategien, wie man grüner werden kann?“, „Werden greifbare und konkrete Ziele gesetzt und sogar kontrolliert?“ und schließlich: „Werden Fortschritte gemacht und welche Erwartungen können wir für die Zukunft haben?“
Die gute Nachricht zu Beginn: Das Thema wird von den Herstellern verstanden und intensiv angegangen. Es gibt heute kaum noch ein Pharma- oder Medizintechnikunternehmen, welches sich hier nicht passend positioniert und Aktivitäten ergreift. Begriffe wie „Nachhaltigkeit“ und „ökologischer Fußabdruck“ sind auf praktisch allen Homepages der Hersteller zu finden. Klar ist auch, dass Veränderungen notwendig sind, deshalb gilt es, ganzheitliche Maßnahmen zu ergreifen, um die aktuelle Situation zu verbessern und die Unternehmen zu grüneren und ökologisch verantwortungsvolleren Teilen der Gesellschaft zu machen.
Im Januar 2020 wurde in Davos die „Sustainable Market Initiative“ (SMI) von seiner Königlichen Hoheit, dem Prinzen von Wales ins Leben gerufen (1). Der mittlerweile als König Charles III. von Großbritannien regierende Monarch hat mehrere Arbeitsgruppen ins Leben gerufen, um Strategien und Kooperationen für mehr Nachhaltigkeit zu entwickeln. Im SMI gibt es eine „Health Systems Task Force“, die auch Partner der WHO „Alliance on Transformative Action on Climate and Health“ (ATACH) ist, einer Plattform, zu der sich über 60 Länder auf Ebene der Gesundheitsminister verpflichtet haben, um die Klimaresilienz zu stärken und die Emissionen der Gesundheitssysteme zu senken. Um diese Task Force mit Leben zu füllen und sich auf die Umweltstrategien und -Maßnahmen der Gesundheitsindustrie zu konzentrieren, haben die Vorstandsvorsitzenden von sieben großen globalen Pharmaunternehmen (AstraZeneca, GSK, Roche, Merck Deutschland, Novo Nordisk, Sanofi und Samsung Biologics) auf der jüngsten COP27 in Sharm el-Sheikh ihre Zusammenarbeit und ihre Ziele für die Zukunft bekannt gegeben, um eine kurzfristige Emissionsreduzierung zu erreichen und die Bereitstellung von Netto-Null-Gesundheitssystemen zu beschleunigen (2). Auch wenn kürzlich veröffentlichte Studien die Menge der negativen ökologischen Fußabdrücke der Pharma- und Medizinprodukteindustrie im Vergleich zu anderen Branchen, z. B. in Bezug auf die Abfallproduktion, bis zu einem gewissen Grad relativieren, stehen sie bei weitem nicht an der Spitze der Liste der Liste solcher Verursacher, sondern befinden sich eher im Mittelfeld (3).
Die Pharma- und Medizinprodukteunternehmen sind sich der Notwendigkeit bewusst, auf den ökologischen Fußabdruck einzuwirken, und streben danach, grüner und nachhaltiger zu werden. Es werden Strategien entwickelt und werden derzeit umgesetzt, was, wie und bis wann zu tun ist. Der Kern der Nachhaltigkeitsstrategien konzentriert sich auf den CO2-Ausstoß, den Verbrauch von (erneuerbarer) Energie, den Ressourcenverbrauch (z.B. [Toxizität und Menge] von Rohstoffen oder Wasser) und auch auf Abfall. Abfallvermeidung und -bewirtschaftung sind Herausforderungen am Ende des Lebenszyklus von Medizinprodukten.
Ein Beispiel für eine umfassende Umweltstrategie ist die Strategie „Circular for Zero“ von Novo Nordisk. Sie wurde kurz nach der Jahrtausendwende mit dem Ziel entwickelt und umgesetzt, die Umwelt nicht zu belasten. Sie befasst sich mit der „Kreislaufversorgung“, einschließlich des Fußabdrucks der Zulieferer und der Kreislaufbeschaffung, mit dem „Kreislaufunternehmen“, einschließlich der Betriebsabläufe und des Transports, der Beseitigung von Energie-, Wasser- und Materialabfällen und der grünen Tochtergesellschaften, sowie mit den „Kreislaufprodukten“, einschließlich des Kreislaufproduktdesigns und der Lösung von Problemen am Ende des Lebenszyklus. Diese Strategie umfasst kurz-, mittel- und langfristige Ziele, z. B. für das Jahr 2030: „Die gesamte Versorgung basiert auf 100 % erneuerbarer Energie“, „Null CO2 aus Betrieb und Transport“ und „50% der Novo Nordisk-Produkte werden bis zu diesem Jahr wiederverwendet oder recycelt“. Ein bereits bestehendes Ergebnis von „’Circular for Zero“ ist die Nutzung von 100% erneuerbarer Energie in allen Produktionsstätten von Novo Nordisk weltweit ab 2020 (4).
Verlängerte Halbwertszeiten von Medikamenten, die von täglicher zu wöchentlicher Einnahme oder von Injektionen zu Tabletten umgestellt werden, können die Abfallmenge erheblich reduzieren. Die politische Unterstützung für ein innovationsfreundliches Umfeld ist notwendig, um die damit verbundenen Vorteile zu realisieren. Robustere und kompatiblere Medizinprodukte, kleinere Medizinprodukte der nächsten Generation und solche, die aus weniger unterschiedlichen Materialien wie Kunststoffen hergestellt werden, können die Abfallmenge in vielerlei Hinsicht verringern.
Verpackungs- und Blistermaterialien aus organischen, wiederverwertbaren und sogar essbaren Materialien sind weitere Beispiele für eine Veränderung und Verringerung des Abfalls von der Produktentwicklung bis zur Verwendung beim Patienten. Systematische Rücknahme von gebrauchten Medizinprodukten, um sie wiederzuverwenden oder sie zu recyclen verlangt den Aufbau entsprechende Programme. Damit einhergehend bedarf es eines gemeinsamen Lernprozesses, Zusammenarbeit und geschickter Abdeckung aller Details, auch um nicht an einem Ende Probleme zu lösen und neue an einem andere (Umwelt-)Probleme an einem anderen Ende zu generieren.
Hilfreich hierbei kann die Durchführung von Pilotprojekten von einem Typ von Medizinprodukten sein, die dann in einem größeren Maßstab in anderen Ländern implementiert werden, auch von mehr Produkten als einer Firma. Solche Ansätze können im Endeffekt auch global umgesetzt werden, eine Strategie wie es sie bei Insulinpens gibt (5).
Innovation ist vielfach der Schlüssel zur Lösung von Problemen. Idealerweise lässt sich die Reduzierung von Abfall mit einer Verbesserung der Diabetestherapie kombinieren. Wenn Medizinprodukte zur Insulinapplikation in Boxen gesammelt werden, die mit dem Internet verbunden sind, dann ist dies nicht nur der erste Schritt zum Recycling solcher Produkte, sondern ermöglicht auch die Erkennung von schlechter Adhärenz von Patienten. Die Patienten können an verpasste Insulinapplikationen erinnert werden.
Die Hersteller haben verstanden, wenn auch in einem unterschiedlichen Ausmaß, dass sie und ihre Produkte „grüner“ werden müssen, d.h. ihr ökologischer Fußabdruck muss geringer werden. Entsprechende Strategien wurden etabliert und zeigen erste Ergebnisse. Ohne Zweifel gilt es noch einen langen Weg zu gehen, bis die Herstellung und Nutzung von Medizinprodukten vollständig „grün“ werden mit Null-Fußabdruck. Aller Wahrscheinlichkeit werden Pharma- und Medizinprodukte-Firmen weiterhin in dieser Entwicklung führen sein. Die Vermeidung und Heilung von Krankheiten, die Bereitstellung von besseren Behandlungsoptionen bei akuten oder chronischen Erkrankungen zählt zu den Zielen dieser Firmen. Dies wiederum führt zu einer Reduzierung des ökologischen Fußabdrucks des Gesundheitssystems in der Gesellschaft, was signifikant zu einer Reduktion des anfallenden Mülls, des Energiebedarfs und Materialverbrauchs führt.
Fazit: Der Weg zur vollständigen Nachhaltigkeit bei Medizinprodukten ist vielschichtig, herausfordernd und ziemlich komplex. Um eine Umweltbelastung von Null zu erreichen und insbesondere Abfall zu reduzieren, bedarf es einer nachhaltigen Denkweise vom Beginn der Wertschöpfungskette bis hin zur End-of-Life-Lösung. Es erfordert Innovation, Kreativität und viele Partner, mit denen zusammengearbeitet werden muss, z. B. Regulierungsbehörden, interdisziplinäre Wissenschaftler und Experten aus vielen Bereichen und Branchen sowie Politiker.
Zu diesem Thema passt auch ein Kommentar von einer Diabetologin aus Hessen, der uns vor ein paar Tagen erreicht hat: „Ich habe die Sorge, dass wir das Müllproblem bei der flächendeckenden CGM- Abdeckung zu stark vernachlässigen. Ohne die Patienten unterversorgen zu wollen, sehe ich hier einen deutlichen Handlungsbedarf, sonst fällt uns das spätestens in 20-30 Jahren „auf die Füße“
Wie sieht es bei den Anbietern mit Recyclingangeboten aus?“
Dieser Frage können wir uns nur anschließen.
Referenzen
- White Paper, ‘‘ACCELERATING THE DELIVERY OF NET ZERO HEALTH SYSTEMS’’. Sustainable Markets Initiative Health Systems Task Force, in collaboration with BCG, November 2022.
- European Pharmaceutical Review
- FORSCHUNGSBERICHT OKTOBER 22, ,,SEE-Impact-Study der deutschen MedTech-Branche‘‘. WifOR Institut & BVMed – Bundesverband Medizintechnologie e.V. October 2022.
- Novo Nordisk November 2022
- Novo Nordisk. Returpen_.
DiaTec weekly – März 03, 23
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