In der US-Fachzeitschrift Journal of Diabetes Science and Technology wurde kürzlich ein umfassender Kommentar zu einem neuen Ansatz in der CGM-Datenanalyse veröffentlicht [1]. Darin zeigen David Klonoff und mehrere renommierte Kolleginnen und Kollegen, dass das kontinuierliche Glucosemonitoring (CGM) in eine neue Evolutionsphase eintritt. Der Wandel markiert den Übergang von klassischen Kennzahlen wie Zeit im Zielbereich (TIR), mittlerem Glucosewert, Glucosemanagement-Indikator (GMI), Variationskoeffizient (CV) oder Glykämie-Risikoindex (GRI) hin zu datengetriebenen, KI-gestützten Verfahren wie
- funktionaler Datenanalyse (FDA),
- maschinellem Lernen (ML) und
- künstlicher Intelligenz (KI).
Diese neuen Methoden analysieren nicht nur statistische Mittelwerte, sondern die vollständige tägliche Zeitreihe von bis zu 1.440 Glucosemesswerten. So lassen sich individuelle Muster und Zusammenhänge erkennen, die bislang verborgen blieben, z.B. Unterschiede im Verhalten, metabolische Subtypen oder Risiken, die über die bekannten Parameter hinausgehen.
Die klassische CGM-Datenanalyse („CGM 1.0“) hat sich in der klinischen Praxis etabliert und das ambulante Glucoseprofil (AGP) wurde zur Lingua franca der 2010er Jahre. Doch diese Form der Datenauswertung stößt zunehmend an ihre Grenzen. Gefordert sind Tools, die tiefer liegende Muster sichtbar machen und personalisierte Interventionen ermöglichen.
Die charakteristischen Kennzahlen wie TIR und GMI bleiben zwar nützlich, doch CGM 2.0 eröffnet neue Möglichkeiten: etwa die Analyse zeitlicher Granularität und individueller Unterschiede zwischen Menschen mit Diabetes, zum Beispiel bei postprandialen Verläufen, nächtlicher Variabilität oder Verhaltensfaktoren, selbst bei identischen TIR-Werten.
Diese erweiterten Analysen können helfen, Pathophysiologie und Alltagserleben von Menschen mit Diabetes differenzierter zu verstehen. Die funktionale Datenanalyse betrachtet jede CGM-Kurve als kontinuierliche Funktion und nicht als Aneinanderreihung einzelner Punkte. Damit lassen sich Glucoseverläufe präziser modellieren und dies ermöglicht:
- Längsschnittanalysen: Erkennung von Variabilitätsmustern innerhalb und zwischen Individuen über längere Zeiträume.
- Phänotypisierung: Identifikation von Gruppen mit typischen zirkadianen, nächtlichen oder postprandialen Profilen.
- Verhaltensanalyse: Aufdeckung von Mustern wie versäumten Boli, falscher Insulintiming oder Bewegungsverhalten.
- Systemvergleich: Prüfung der Reproduzierbarkeit von CGM-Systemen durch Vergleich wiederholter Messverläufe.
- Risikostratifizierung: Bewertung intra- und interindividueller Variabilität als Prädiktor für Komplikationen.
- „Glucosedichte“: Darstellung der gesamten Glucoseverteilung als Wahrscheinlichkeitsfunktion, die Mittelwert und Schwankungen gleichermaßen berücksichtigt.
Die Autorengruppe beschreibt zahlreiche Anwendungsfelder wie Mustererkennung und Klassifizierung:
- KI-Modelle erkennen Hypo- und Hyperglykämien sowie Variabilitätsereignisse automatisch. ML-Modelle sagen nächtliche Unterzuckerungen mit hoher Genauigkeit voraus (Hypoglykämievorhersage)
- Metabolische Subphänotypen: ML-Analysen von CGM-Daten (z. B. bei häuslichen oGTTs) erlauben Rückschlüsse auf Insulinresistenz und Betazellfunktion.
- „Glucotypen“: Clustering von CGM-Reaktionen auf Mahlzeiten ermöglicht die Identifikation von Subgruppen – auch unter normoglykämischen Personen, was eine frühere Erkennung von Prädiabetes erlauben könnte.
- Komplikationsrisiko: ML-Modelle verknüpfen spezifische CGM-Muster mit Retinopathie, Albuminurie und anderen mikroangiopathischen Folgen. Studien wie GLAM zeigen auch Zusammenhänge zwischen CGM-Daten und Risiken für maternale und neonatale Komplikationen.
Zudem verweisen die Autoren auf neue Modelle wie Gluformer (https://arxiv.org/abs/2408.11876), die auf umfangreichen CGM-Datensätzen vortrainiert wurden und sich auf unterschiedliche Aufgaben – von Diagnose bis Risikoprognose – anwenden lassen.
Erste Hersteller integrieren bereits KI-basierte Analysen: Dexcom Stelo, ein im August 2024 in den USA eingeführtes, frei zugängliches CGM-System, verwendet generative KI, um wöchentliche narrative Zusammenfassungen und personalisierte Lebensstilempfehlungen zu erstellen, wobei Glucose mit Mahlzeitenprotokollen und anderen Datenströmen von Wearables integriert wird. Auch Roche Diagnostics mit Accu-Chek SmartGuide verwendet in diesem in der EU erhältlichen CGM-System drei ML-Modelle für 120-Minuten-Prognosen, 30-Minuten-Unterzuckerungserkennung und Nacht-Hypoglykämie-Vorhersagen mit proaktiven Warnmeldungen vor dem Schlafengehen.
Große Sprachmodelle und LLMs wie GPT-4 werden künftig eine wichtige Rolle bei der Interpretation von CGM-Daten spielen. Erste Studien zeigen, dass sie Muster, Hypo- und Hyperglykämien präzise erkennen können.
Etwas Wasser muss dennoch in den Wein, denn bei der klinischen Interpretation treten gelegentlich Fehleinschätzungen auf, die falsche Behandlungsentscheidungen begünstigen könnten. Daher fordern die Autoren menschliche Kontrolle und bessere Prompt-Designs. Besonders wertvoll sind LLMs für sprachbasierte CGM-Zusammenfassungen für Ärztinnen und Ärzte, etwa in der Primärversorgung, wo Zeit und Expertise zur detaillierten AGP-Analyse oft fehlen. Auch Therapieanpassungsvorschläge könnten künftig automatisch generiert werden, allerdings immer unter ärztlicher Aufsicht.
Trotz aller Fortschritte identifizieren die Autoren mehrere Hürden:
- Erklärbarkeit: Ärztinnen und Ärzte müssen nachvollziehen können, warum ein Algorithmus ein bestimmtes Muster markiert – vor allem bei insulinrelevanten Entscheidungen.
- Modelldrift: Veränderungen in Physiologie, Medikation oder Lebensstil können Modellgenauigkeit beeinträchtigen – hier braucht es kontinuierliches Lernen und Monitoring.
- Randfälle: Menschen mit atypischen Mustern (z. B. gestörten zirkadianen Rhythmen oder Polypharmazie) dürfen nicht aus Trainingsdaten herausfallen.
- Integration in Arbeitsabläufe: Reports müssen standardisiert, automatisiert und nutzerfreundlich sein, um nicht als akademische Spielerei zu enden.
Fazit: Ob es tatsächlich zum Paradigmenwechsel kommt, wird auch von der Regulatorik abhängen, etwa, ob Zulassungsbehörden KI-basierte Systeme akzeptieren, die Behandlungsentscheidungen vorschlagen. Entscheidend wird sein, ob Ärzte und Menschen mit Diabetes den Mehrwert dieser neuen Analysen erkennen und Vertrauen in ihre Ergebnisse entwickeln. Erst wenn CGM 2.0 nachweislich zu besseren glykämischen Ergebnissen, geringerem Komplikationsrisiko oder verbesserten Patient-Reported Outcomes (PROs) führt, wird sich die neue Generation der Datenauswertung durchsetzen.
- Klonoff DC, Bergenstal RM, Cengiz E, Clements MA, Espes D, Espinoza J, et al. CGM Data Analysis 2.0: Functional Data Pattern Recognition and Artificial Intelligence Applications. Journal of Diabetes Science and Technology. 0(0):19322968251353228. doi: 10.1177/19322968251353228. PubMed PMID: 40814224.
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