Ein Gastbeitrag von PD Dr. Martin Füchtenbusch
Du lebst mit Typ-1-Diabetes (T1D), Du bemühst Dich täglich darum, Stabilität in die glykämische Kontrolle zu bekommen, jeden Tag und jede Nacht, nimmst immer wieder Anpassungen der Basalinsulin-Abgabe und der Boli-Berechnungen vor. Du diskutierst regelmäßig mit deinem Diabetesteam, welche Faktoren und Ereignisse akut welchen Einfluss auf die Glukosespiegel haben und denkst dabei vielleicht an die berühmte Liste aus dem Buch von Adam Brown (Bright Spots & Landmines; The Diabetes Guide I wish someone had handed me), der selbst mit T1D lebt und 22 Faktoren benennt, die allein oder in Kombination mit anderen Ereignissen Deinen Glukosespiegel nach oben oder nach unten verschieben. Es kommt Dir sehr komplex vor und Du erlebst viele Situationen als besonders herausfordernd, obwohl Du Dich extrem gut auskennst mit all diesen Faktoren.
Der HbA1c liegt bei Dir vielleicht über Jahre bei 7,8 bis 8,5% bei hoher glykämischer Variabilität und es gelingt nicht die Stoffwechselkontrolle zu verbessern. Möglicherweise besteht auch eine Sorge vor zu niedrigen Glukose-Werten, die unbewusst aktiv ist und Dich davon abhält, eine bessere Einstellung zu erreichen. Du hast nun die Möglichkeit ein AID-System zu nutzen, lässt Dich beraten, entscheidest Dich dafür und Du siehst, dass Du in kürzester Zeit nun stabilere Glukoseverläufe erreichst. Die TIR steigt auf 75%, die TBR liegt bei 2% und vor allem erlebst Du eine Entlastung vom „disease burden“, von vielen proaktiven Einzelinterventionen, die jetzt nicht mehr nötig sind. Du sagst, das Leben mit T1D ist leichter geworden und es kommt Dir vor wie eine Mondlandung.
Viele Menschen mit Typ-1-Diabetes machen ebenso wie die Mitarbeiter aus den Diabetesteams seit der ersten Zulassung eines AID-Systems (MiniMed 670G bereits seit Ende 2019) diese Erfahrung, wie eben geschildert und wie sie sich tatsächlich so in meiner Praxis begeben hat. Wie der dt-report aus diesem Jahr berichtet, nehmen die Nutzer-Zahlen eines AID-Systems rasant zu und viele Kolleginnen und Kollegen schätzen, dass über die nächsten 5 Jahre etwa 50% der Menschen mit T1D ein AID System nutzen werden. Im Kinder-und Jugendbereich wird die Entwicklung noch schneller von statten gehen.
Die aktualisierte S3-Leitlinie zur Therapie des T1D ist deshalb von großer Bedeutung, weil sie die Fülle an neuen Studien (insbesondere zur Diabetestechnologie) sichtet, ordnet, bewertet und daraus abgeleitete, evidenz-basierte Empfehlungen formuliert. Sie fungiert damit als eine verbindliche Referenz, auf die zum einen die Krankenkassen als Kostenerstatter zurückgreifen sollen und zum anderen die DMPs, die ebenso ihre Inhalte zur Struktur- und Behandlungsqualität fortlaufend aktualisieren müssen.
Therapieleitlinien sind deshalb keine l`art pour l`art, in 5-Jahres-Abständen regelmäßig aktualisiert dienen sie darüber hinaus dem Zweck, Patienten über einen Prozess der partizipativen Entscheidungsfindung die bestmögliche Therapie zukommen zu lassen. Die DDG fordert und erwartet, dass die neuen Empfehlungen der Leitlinie als verbindliche Therapieziele in die DMPs aufgenommen werden.
In diesem Sinne lautet eine der zentralen neuen Empfehlungen der Leitlinie (siehe dort Empfehlung 5-15):
„Bei Menschen mit Typ-1-Diabetes soll der Einsatz einer Insulin-Pumpentherapie mit AID-Algorithmus bei Nichterreichen der individuellen Therapieziele unter intensivierter Insulintherapie trotz CGM empfohlen werden“ (Evidenzgrad A).
Die Grundlage für diese zentrale Empfehlung sind v.a. Metanalysen von RCTs, also Studien, die dem höchsten Evidenzlevel entsprechen. Die relevantesten Vergleichsgruppen sind hier AID-Therapie vs Sensor-unterstützte ICT+ CGM Therapie, da geschätzt 60% der Menschen mit T1D in Deutschland derzeit eine ICT+ CGM Therapie machen. Ebenso wichtig ist der Vergleich einer AID-Therapie vs. CSII + CGM ohne AID-Algorithmus, da immer noch ein Großteil der Menschen mit T1D in Deutschland eine CSII + CGM-Therapie ohne AID-Algorithmus nutzen. Um eine Vorstellung von den Verbesserungen einer AID-Therapie zu bekommen, können wir uns hierzu zumindest eine der drei vorliegenden Metaanalysen anschauen:
Jiao et al. (BMJ Open Diabetes Res Care 2022) zeigte bei der Auswertung von 11 RCTs (n=817 Patienten) in der AID-Gruppe eine Verbesserung der TIR (70-180 mg/dl) von absolut 10,32% (95% CI 8,70 bis 11,95%; p<0,00001), was täglich 2:27 Stunden mehr Zeit im Zielbereich entspricht. Die TBR <70 mg/dl nahm um absolut 1,09% ab (−1,54 bis −0.64%; p<0,00001), was täglich 16 Minuten weniger in der Hypoglykämie entspricht. Die TAR >180 mg/dl nahm um absolut 8,89% ab (−10,57 bis −7,22%, p<0,00001), das sind 2:14 Stunden weniger in der Hyperglykämie. Zudem zeigte sich, dass die Verbesserung der TIR nachts deutlich ausgeprägter war als tagsüber.
In einer anderen Subgruppen-Analyse zeigte sich, dass die AID-Therapie je nach Vergleichsgruppe verschiedene TIR Verbesserungen erzielt. Im Vergleich mit einer Injektionstherapie (ICT) lag die Verbesserung bei absolut 15,2% (11,18-19,22%; p<0,00001), im Vergleich mit einer Sensorunterstützten Pumpentherapie (CSII+CGM) bei 10,04% (8,27-11,81%; p<0,00001), und im Vergleich mit einer Insulinpumpentherapie mit PLGS-Funktion bei 7,2% (1,57-12,83%; p<0,01).
Das sind beeindruckend positive Ergebnisse. Damit die Diabetestechnik sicher beherrscht werden kann, ist es unabdingbar, dass eine technische Einweisung in die Systeme (CGM, Pumpe mit AID-Funktion) herstellerseitig erfolgt und andererseits die Therapiesteuerung mit allen Erst- und Folge-Settings (wie z.B. Basalraten, gKH/Insulin-Verhältnis für die Boli, Einstellung von Zusatzfunktionen wie z.B. Ziel-Glukose etc.) von erfahrenen Diabetesteams begleitet wird.
Obgleich die technischen Neuerungen in der Diabetestherapie die prominenteste Rolle in der Leitlinie einnehmen, liegen weitere Augenmerke auf der partizipativen Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Mensch mit T1D. Der Fokus dabei liegt auf der Vereinbarung individueller Therapieziele. Das Konzept beruht auf den ethischen Prinzipien der Autonomie und Fürsorge.
Klar, wir alle werden sagen: Therapieziele vereinbart man gemeinsam, das haben wir immer schon so gehandhabt, aber dieses Konzept auch begründet und sehr detailliert endlich auch in Leitlinie aufzunehmen, ist sehr begrüßenswert. Ebenso positiv in diesem Zusammenhang ist eine weitere neue Empfehlung in dieser Leitlinie, und zwar aktiv darüber aufzuklären, dass die in früheren Arbeiten stark erhöhte Exzessmortalität in den letzten Jahren deutlich abgenommen hat, insbesondere wenn keine Makroalbuminurie vorliegt. Das ist eminent wichtig, wenn man bedenkt, dass viele Menschen mit T1D das Web durchforsten und dabei auf veraltete Daten über hohe Komplikationsraten stoßen, die heute bei einer deutlich verbesserten Therapie so nicht mehr zutreffend sind.
Während Leitlinien immer ein paar Jahre hinterherhinken, da sie ja nur alle 5 Jahre aktualisiert werden (wenn überhaupt), gehen die Erwartungen an die technischen Lösungen immer ein paar Jahre voraus. So sehr die meisten Menschen die jetzigen AID-Systeme schätzen, so sehr wünschen sich manche Nutzer bereits weitere Fortschritte wie fully-closed-loop Systeme, die schon getestet werden und wegen der verzögerten Insulinabgabe – erst wenn ein Mahlzeiten-bedingter Glukoseanstieg vom System detektiert worden ist- dann etwas schlechtere TIR Ergebnisse von um die 60% erreichen.
Das könnte ja erstmal bei bestimmten Gruppen sinnvoll sein, z.B. in Pflegeheimen oder bei Menschen, die überfordert sind mit manuellen Eingaben von KH-Mengen. Wie Sie sehen, nach der Leitlinie ist vor der Leitlinie, die nächste Aktualisierung steht schon vor der Tür.
PD Dr. Martin Füchtenbusch
Institut für Diabetesforschung am Helmholtz Munich
Diabeteszentrum am Marienplatz, München
Fazit: Unser herzlicher Dank gilt Martin für diesen erhellenden Beitrag zur aktualisierten Leitlinie bei Typ-1-Diabetes. Leitlinien sind im Gegensatz zu Richtlinien rechtlich nicht verbindlich, trotzdem habe sie einen hohen Stellenwert, denn Ärztinnen und Ärzte können zwar von der in der Leitlinie empfohlenen Behandlung abweichen, wenn sie denken, dass sie für einen bestimmten Patienten nicht geeignet ist, Abweichungen sollten aber jeweils begründet sein.
diatec weekly – April 19, 24
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