Herzlich willkommen beim diatec weekly,
stellen wir uns eine Sommerwiese vor: ein wildwucherndes Durcheinander aus Gräsern und Blüten, die sich gegenseitig das Licht rauben. Offensichtlich braucht dieses Gewusel ein wenig Ordnung. Doch statt beherzt zur Sense zu greifen, nehmen wir eine Pinzette und eine Nagelschere. Wir zupfen hier ein Hälmchen, schneiden dort ein Blättchen und wundern uns, dass die Wiese dadurch nicht übersichtlicher wird. Die Sense wäre die Lösung, klar. Aber sie macht Angst: zu groß, zu scharf, zu endgültig und womöglich verletzen wir uns selbst. Also zupfen wir weiter.
So ähnlich ist es mit unserer Bürokratie. Jeder Politiker weiß, dass es einen tiefen Schnitt braucht, um der wilden Wucherung Herr zu werden, aber niemand traut sich. Aus Sorge, am Ende zu viel zu entfernen: die falschen Formulare, die wichtigen Stempel oder gar die letzte Zuständigkeit für irgendetwas. Denn so nervig die Bürokratie sein kann, ohne sie würde Chaos und Willkür herrschen. Es gäbe keinen Rechtsstaat, keine Krankenhäuser, keine Bahnauskunft, keinen geregelten Verkehr. Also haben wir uns an die Pinzette gewöhnt und solange niemand den Mut zur Sense hat, wächst das Dickicht weiter.
Die Geschichte der Bürokratie beginnt vor rund 5.000 Jahren im heutigen Irak, im fruchtbaren Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris. In den frühen Stadtstaaten Mesopotamiens entstanden die ersten komplexeren Formen von Gesellschaft: Handel, Landwirtschaft und Tempelwirtschaft erzeugten immer mehr Verpflichtungen und Ansprüche, die man sich nicht einfach merken konnte. So erfand man dort die kleinen, feuchten Tontäfelchen und zeichnete mit Keilschrift darauf, wer wem wieviel Gerste schuldete, wie viele Tiere zu opfern waren oder welcher Händler welche Steuern zu entrichten hatte.
Mit den Tontäfelchen kam auch die Verwaltung. Sie machte die eingeritzten Informationen dauerhaft und unabhängig vom Gedächtnis einzelner Menschen. Was auf den Tontäfelchen stand, war Wirklichkeit. Damit verlieh sie ihnen eine eigene Autorität: Nicht die Aussage des Schuldners, sondern die Tontafel entschied über die Wahrheit. Die Herrschaft der Dokumente begann und die Bürokratie war gekommen, um zu bleiben.
Im Alten Ägypten nutzte man die Schrift, um ein ganzes Reich zu organisieren. Tausende Schreiber führten Listen, katalogisierten Steuern, berechneten Ressourcen für gewaltige Bauwerke. Sogar Körper- und Kopfgröße wurden festgehalten, nicht von jedem natürlich, aber von den Wichtigen, damit sie in die Pyramiden passten. Ernten wurden berechnet, Vorräte verteilt und Arbeitseinsätze koordiniert. Verwaltung wurde zur Staatskunst und die Bürokratie schuf Ordnung, Berechenbarkeit und Macht und formte eine Gesellschaft, in der der Zugang zu Schrift und Verwaltung auch die soziale Hierarchie bestimmte.
Die Römer perfektionierten das System und schufen Akten, die so schwer waren, dass nur Legionäre sie tragen konnten. Die Ausdehnung ihres Imperiums wäre ohne Bürokratie auch nicht möglich gewesen. Es wäre kein einziges Aquädukt gebaut, keine Legion bezahlt, keine Provinz verwaltet worden. Gesetze wurden in Archive eingetragen, jeder Besitz wurde registriert und sogar Volkszählungen wurden gewissenhaft durchgeführt. Bürokratie sicherte die Stabilität eines Reiches, das von Spanien bis Syrien reichte, und wurde endgültig zur Kontrolle: Dokumente ersetzten persönliche Beziehungen und der Staat wurde zur übergeordneten Instanz von Recht, Ordnung und Steuerpflicht.
Im europäischen Mittelalter verlagerte sich die Macht der Schrift und damit der Bürokratie in die Hände kirchlicher und höfischer Verwaltungen. Es gab die ersten Kanzleien, die Besitzrechte und Abgaben verwalteten. Mönche in den vielen Klöstern führten Register und die Schrift schuf so etwas wie Kontinuität in Zeiten politischer Unsicherheit. Wer lesen und schreiben konnte, bestimmte auch, was gültig war, und verhinderte so, dass mit jedem Herrscherwechsel auch alle Regeln verschwanden.
Mit der Entstehung moderner Staaten ab dem 17. und 18. Jahrhundert wurde die Bürokratie zur tragenden Säule einer völlig neuen politischen Ordnung. In Preußen entwickelte sich das Berufsbeamtentum, das Verwaltung als rationales und gesetzgebundenes System verstand. Regeln ersetzten Persönliches, Sachlichkeit trat an die Stelle von Gefälligkeit. Der Staat wurde durch Verwaltung leistungsfähig und gerecht, aber auch unpersönlich. Die Gesellschaft wuchs mit der industriellen Revolution und mit ihr die Datenmengen, die zu organisieren waren: Einwohnerregister, Fabrikinspektionen, Eisenbahnlogistik, Militärverwaltung, Landrechte, Schulpflicht, Arbeitsschutz… all das verlangte nach systematischer Verwaltung.
Doch je größer die Systeme wurden, desto stärker trat ein paradoxer Effekt zutage: Bürokratie versprach Entlastung, erzeugte aber ständig neue Lasten. Jede neue Vorschrift brachte auch neue Kontrolle und jede Dokumentation weitere Formulare, die wiederum weitere Kontrollen erforderten. Was einst zur Sicherung von Gerechtigkeit und Transparenz gedacht war, begann sich zu verselbständigen. Die Maschine der Ordnung lief weiter, auch dort, wo sie keinen Sinn mehr machte.
Digitalisierung scheint nun die Lösung zu sein: weniger Papier, schnellere Abläufe, bessere Verfügbarkeit von Informationen. Doch die digitale Bürokratie ist nicht einfach die klügere Nachfolgerin der Analogen. Sie kommt zwar in einem neuen Outfit daher, hat aber dieselbe Struktur, nun ergänzt durch Passwörter, Datenmasken, Systemabstürze und automatisierte Fehlermeldungen. Computer können Entscheidungen zwar schneller, aber nicht unbedingt sinnvoller treffen. Wirklich geändert hat sich auch nichts – alles, was sich früher in den Tontäfelchen verfestigte, wird heute in Datenbanken für verbindlich erklärt.
Die Geschichte der Bürokratie zeigt beides: Sie ist eine der größten kulturellen Leistungen der Menschheit! Sie hat Reiche erschaffen und Fortschritt und Gerechtigkeit ermöglicht. Aber sie trägt auch den Drang in sich, alles zu kontrollieren, alles zu normieren, alles in Kategorien zu pressen. Heute stehen wir an einem Wendepunkt. Weiterzupfen reicht nicht mehr. Statt immer mehr Regeln zu erfinden, müssen wir die richtigen finden. Statt Zuständigkeiten zu vermehren, müssen wir Verantwortung vereinfachen. Bürokratie muss dorthin zurück, wo sie hingehört: in den Dienst der Menschen. Mut zur Sense heißt nicht, alles niederzumähen – sondern wieder wachsen zu lassen, was wirklich wichtig ist.
Die Themen der Woche: Wir haben eine aktuelle Publikation mit Ergebnissen der „Closed-Loop Insulin Delivery in Type 1 Diabetes in Pregnancy (CIRCUIT)“-Studie, anschließend weisen wir darauf hin, dass Serum-Röhrchen in der Glucose-Analytik keinen Platz mehr haben. Mit einem Gastbeitrag berichtet Theresa Schoppe vom VDBD über ein kreatives Seminar zum Thema „Nachhaltig gut geraten – ressourcenschonend handeln“, und last but not least haben wir noch etwas vom EASD, diesmal zu AID und psychischen Problemen.
Bevor es losgeht, hier sind nochmals beide Links für den dt-report. Zur Erinnerung: Der Report zu Diabetes-Technologie erfasst Daten zur Nutzung und zur Zufriedenheit mit Diabetes-Technologie bei Health Care Professionals (Ärzte und BeraterInnen) und PatientInnen.
Hier ist der Link für alle DiabetologInnen und Diabetes-BeraterInnen:
und hier der Link für alle PatientInnen mit Diabetes
Auf geht’s!
Eine optimale Glukosekontrolle in der Schwangerschaft ist bei Frauen mit Typ-1-Diabetes (T1D) entscheidend – sowohl für die Gesundheit der Mutter als auch für die des Kindes. Automatisierte Insulindosierungssysteme (AID) zeigen schon länger Verbesserungen im Alltag der Nutzerinnen. Doch welche Vorteile bieten sie in der sensiblen Zeit der Schwangerschaft? Neue Studiendaten geben dazu wichtige Antworten.
CIRCUIT-Studie: AID-Systeme bieten klare Vorteile für schwangere Frauen mit Typ-1-Diabetes
Eine aktuelle Publikation in einem führenden US-Medizinjournal berichtet über die Ergebnisse der „Closed-Loop Insulin Delivery in Type 1 Diabetes in Pregnancy (CIRCUIT)“-Studie [1]. An insgesamt 14 klinischen Standorten in Kanada und Australien wurden 88 Schwangere mit T1D randomisiert entweder einem AID-System (t:slim X2; n = 44) oder der Standardtherapie (Insulinpumpe oder MDI mit CGM; n = 44) zugeteilt. Die Teilnehmerinnen wurden bis zum Ende der Schwangerschaft und zusätzlich sechs Wochen postpartal begleitet.
Die präzise Bestimmung der Blutglucose ist eine zentrale Grundlage für die Diagnostik und Therapie des Diabetes. Doch noch immer kommt es bei der Präanalytik zu Fehlern, die vermeidbar wären – insbesondere durch die falsche Wahl des Blutentnahmeröhrchens. Neue Vorgaben und aktuelle Umsetzungen in den Laboren machen deutlich: Die Glucosemessung aus Serum hat ausgedient:
Glucosemessung: Die Verwendung von Serum-Röhrchen ist obsolet!
Das MVZ Labor Limbach, eine der größten Laborketten in Deutschland, weist aktuell auf seiner Homepage darauf hin, ab dem 1.12.2025 keine Glucose-Analytik aus Serumproben mehr durchzuführen. Hintergrund ist die Aktualisierung der Richtlinien der Bundesärztekammer (RiLi-BÄK) aus dem Jahr 2023.
Klimawandel und Nachhaltigkeit sind längst keine Randthemen der Gesundheitsversorgung mehr – auch in der Diabetologie rücken sie zunehmend in den Fokus. Wie kann die Versorgung der Zukunft ökologisch verantwortungsvoll gestaltet werden, ohne dabei die Bedürfnisse von PatientInnen aus dem Blick zu verlieren? Und welche Rolle spielen dabei DiabetesberaterInnen und -assistentInnen im beruflichen Alltag? Eine neue Fortbildungsinitiative zeigt, wie groß der Wille zum Wandel in der Praxis bereits ist. Ein Gastbeitrag von Theresia Schoppe vom VDBD berichtet von einer Veranstaltung zum Thema:
Nachhaltig gut beraten – ressourcenschonend handeln
Theresia Schoppe, VDBD
Nachdem bereits die Themen Klimawandel/Hitze sowie nachhaltige Diabetologie in die Ausbildung der DiabetesassistentInnen und -beraterInnen implementiert werden konnten, gab es nun auch erstmalig ein Angebot für bereits ausgebildete Berufe der Diabetesedukation. Die VDBD AKADEMIE hat am 18.10.2025 in der erlebniswerkstatt Essen erstmalig eine Veranstaltung zum Thema Nachhaltigkeit und Klimawandel angeboten. Zu einem kreativen Seminar zum Thema „Nachhaltig gut geraten – ressourcenschonend handeln“ fanden sich viele engagierte Menschen aus den Berufen der Diabetesedukation zusammen, um bestehende Probleme zu diskutieren und konstruktiv Lösungen zu erarbeiten. Der Tagungsort überzeugte sehr durch seine innovative Gestaltung und lud zum kreativen, fachlichen Austausch ein.
Angststörungen sind bei Menschen mit Typ-1-Diabetes weit verbreitet und beeinflussen nicht nur das psychische Wohlbefinden, sondern oft auch das Diabetes-Management. Während AID-Systeme in den letzten Jahren wichtige Erfolge beim Diabetes-Management gezeigt haben, fehlten bislang Daten zum Nutzen dieser Technologie bei Menschen mit komorbiden Angststörungen. Eine aktuelle retrospektive Analyse bringt nun neue Erkenntnisse:
EASD 2025: AID-Systeme und psychische Störungen
Angststörungen gehören mit einer Prävalenz von bis zu 40 % zu den häufigsten psychischen Begleiterkrankungen bei Menschen mit T1D. Bislang gab es jedoch keine belastbaren Daten zur Wirksamkeit von AID-Systemen bei diesen PatientInnen. J. S. Croos (SO078-863) präsentierte nun Ergebnisse einer retrospektiven klinischen Untersuchung aus einem tertiären Diabeteszentrum, in dem AID im Alltag auch bei Menschen mit diagnostizierten Angststörungen eingesetzt wurde.
Das Bild der Woche

Der kleine helle Punkt ist unser Heimatplanet Erde, umgeben von der Milchstraße.
Weit und breit ist auch nichts anderes in Sicht, das uns eine Heimat sein könnte.
Wir sollten also gut auf unsere Heimat aufpassen.
https://dialink-diabetes.rogsurvey.de/html/survey.htm?n=fidam/FDM_Juli2025&ref=newsletterZum Schluss noch wie immer das Letzte
Führt künstliche Intelligenz dazu, dass wir nach und nach unser Denken auslagern? Ein spannendes Buch mit dem Titel „Sprachmaschinen – eine Philosophie der künstlichen Intelligenz“ von Roberto Simanowski (ISBN 9783406837531) sieht diese Gefahr durchaus und nennt das einen „Souveränitätstransfer“, was ein besseres Wort ist für eine unbequeme Wahrheit.
Wir lagern also das Denken aus. Und wir tun es freiwillig – und sogar mit dem Gefühl, uns damit etwas Gutes zu tun. Sprachmaschinen – und nichts anderes sind ChatGPT und ihre Brüder und Schwestern, schreiben schneller, flüssiger und meist auch diplomatischer. Sie widersprechen nicht, stellen keine Rückfragen und machen keine Rechtschreibfehler. Nun ja, manchmal schon. Kurz: Eine Sprach-KI ist die ideale Kollegin. Nur leider eine, die uns selbst Stück für Stück überflüssig macht.
Roberto Simanowski hält uns einen Spiegel vor, und zwar einen, der nicht verzerrt, sondern entlarvt. Weil er uns daran erinnert, dass Sprache unser eigentliches Betriebssystem ist: Ohne Sprache kein Denken, ohne Denken kein Verstehen, ohne Verstehen kein „Ich“. Ausgerechnet dieses bedeutende Betriebssystem geben wir nun immer öfter an Maschinen ab, die nicht denken, sondern lediglich so tun, als ob, wenn auch auf eine recht elegante Art und Weise.
Dabei sind diese Systeme alles andere als neutral. Sie reproduzieren Vorurteile, verstärken Mehrheitsmeinungen und liefern Antworten, die manchmal wie der intellektuelle Gegenwert eines gut gebügelten Hemds wirken: sauber und glatt, aber frei von echter Haltung. Und während wir uns darüber freuen, dass die Maschine endlich die lästige Denkarbeit übernimmt, merken wir gar nicht, wie unser eigenes Urteilsvermögen langsam, aber sicher auf Stand-by geht.
Simanowski ruft mit seinem Buch deshalb zu einer neuen digitalen Aufklärung auf. Nicht zu mehr Technik, sondern zu mehr Selbstbewusstsein. Denn die eigentlich spannende Frage ist nicht, was die KI mit unserer Sprache macht – sondern was wir mit uns machen, wenn wir ihr unsere Stimme überlassen. Sein Buch ist eine elegante Erinnerung daran, dass Effizienz nicht alles ist und dass der Mensch als denkendes Wesen vielleicht doch nicht vollständig automatisierbar ist. Zumindest noch nicht.
So, das war der weekly für die Woche. Draußen ist es ungemütlich geworden, die richtige Zeit also, den Fragebogen für den dt-report auszufüllen. Oder sich langsam mal Gedanken zu Weihnachten zu machen. Wem schenkt man was und vor allem, wo findet man das? Online zu ordern ist zumindest in den Städten inzwischen zur echten Herausforderung geworden: Wenn man tagsüber nicht zu Hause ist, muss man abends den richtigen Kiosk für die Paketausgabe finden und dort geduldig in der langen Schlange warten, bis man die Bestellungen ausgehändigt bekommt.
Wir wünschen ein schönes Wochenende und – bleiben Sie geduldig!
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Dieser Artikel erscheint als Teil des wöchentlichen Letters zu hochaktuellen Entwicklungen im Bereich Diabetes Technologie. Nutzen Sie das nebenstehende Formular um sich für den diatec weekly Newsletter anzumelden!
Mit freundlichen Grüßen
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