Während eines mehrstündigen Treffens im Vorfeld des diesjährigen Diabetes-Technologie-Meetings (DTM) in San Francisco diskutierten rund 50 Diabetologen, Wissenschaftler und sechs Industriebeobachter einen neuen Parameter, um die Messgüte von Glucosewerten aus einem CGM-System zu bewerten: Der „Glycemic Risk Index“ (GRI) wurde bereits in der Originalpublikation im Jahr 2022 [1] vorgestellt und seitdem fast 240-mal zitiert. Grundlage ist einer der weltweit größten Datensätze von CGM-Kurven, die hinsichtlich der Qualität der Glykämie bewertet wurden: 330 CGM-Experten aus sechs Kontinenten analysierten 225 Kurven von vier verschiedenen Gruppen von Insulinanwendern, um den Parameter zu entwickeln. Der GRI fasst sieben Kennzahlen eines AGP-Berichts zusammen – gewichtet nach der Einschätzung dieser Experten. Ziel ist es, Klinikerinnen und Klinikern eine Kennzahl an die Hand zu geben, die Hinweise auf möglicherweise notwendige Therapieanpassungen liefert.
Auf Basis eines aktuellen Review-Artikels zur klinischen Bedeutung dieses Parameters [2] wurde in einer Serie von zehn Präsentationen und einer einstündigen Podiumsdiskussion erörtert, warum es diesen zusätzlichen Parameter gibt und welche Rolle er künftig spielen könnte. Der thematische Bogen spannte sich von den mathematischen Grundlagen seiner Berechnung über die klinische Einschätzung und praktische Nutzung in der Diabetesbetreuung bis hin zu Anwendungsbeispielen in der Onkologie, in der pädiatrischen Diabetologie, zur Integration in Apps und elektronische Patientenakten sowie zur Bedeutung auf Bevölkerungsebene.
Ziel des Treffens war es, die Rolle des GRI in der klinischen Medizin und Gesundheitsforschung zu definieren – auch im Hinblick auf bevölkerungsweite Datennutzung. Am Ende wurden zwei zentrale Fragen diskutiert, zu denen man eine gemeinsame Position anstrebte:
- Was sollte ein Kliniker mit einem GRI-Wert konkret tun?
- Sollten AGP-Berichte der CGM-Hersteller, die bereits eine Vielzahl von Parametern und Grafiken enthalten, künftig auch den GRI ausweisen?
Geleitet wurde das Treffen von zwei renommierten US-Diabetologen, Guillermo Umpierrez und Viral Shah. Als Ergebnis ist ein Konsensusbericht geplant. Vertreter der American Diabetes Association (ADA) und der Diabetes-Beraterinnen-Vereinigung (ADCES) nahmen teil, um die Initiative zu unterstützen. Das ursprüngliche Entwicklungsprojekt wie auch dieses Treffen wurden von der Diabetes Technology Society eigenständig, also ohne industrielle Förderung, finanziert.
Fazit: In den vergangenen 20 Jahren wurden zahlreiche neue CGM-Parameter vorgeschlagen, was nicht selten zu Verwirrung geführt hat. Alle zielen letztlich darauf ab, komplexe CGM-Profile in einer einzigen Zahl zusammenzufassen, um daraus analog zum HbA1c-Wert Rückschlüsse für die Therapie zu ziehen. Kaum hat sich die Time in Range (TIR) als Standard etabliert, folgt bereits die Time in Tight Range (TITR). Beide liefern jedoch keine Aussage zum Hypoglykämie-Risiko – ein Aspekt, den der GRI explizit adressiert.
In der abschließenden Diskussion entstand daher die Idee, eine Erhebung zu initiieren (s.u.): Welche CGM-Parameter sind Diabetologen und Menschen mit Diabetes überhaupt bekannt – und welche werden tatsächlich genutzt oder im Arztbrief dokumentiert? Menschen mit Diabetes sollten grundsätzlich verstehen, welcher Zielwert bei welchem Parameter aus welchem Grund angestrebt wird. Und: Passt ein einzelner Parameter überhaupt für alle Nutzergruppen? Während Hypoglykämien für viele Menschen mit Typ-2-Diabetes (je nach Therapie) eine untergeordnete Rolle spielen, sind sie für Typ-1-Diabetes-Betroffene zentral – hier könnte der GRI besonders relevant sein. Vielleicht geht es also weniger um den einen „besten“ Parameter, sondern entscheidend ist das jeweilige klinische Ziel.
Um die verschiedenen Parameter einordnen zu können, braucht es geeignete Schulungs- und Kommunikationsstrategien – auch, um Nichtfachleuten deren Bedeutung zu vermitteln. Möglicherweise wird sich diese Diskussion künftig ohnehin verändern: Mit CGM 2.0 und dem Einsatz von KI könnten wesentlich mehr Daten automatisch analysiert und konkrete Handlungsempfehlungen (statt bloßer Kennzahlen) generiert werden.
Ein Parameter wie der GRI wird sich nur dann im Alltag durchsetzen, wenn er in die Auswertungssoftware der CGM-Hersteller oder anderer Anbieter integriert wird – und zugleich Eingang in Leitlinien und die Ausbildung des Fachpersonals findet. Andernfalls wird es kaum klinische Akzeptanz davon geben. Offen bleibt, ob sich der GRI etablieren kann. Kritisch wurde zudem diskutiert – und das gilt für alle CGM-Parameter –, wie sich die Messgüte verschiedener Systeme auf den GRI auswirkt: Ist der Wert identisch, wenn der Nutzer ein anderes CGM-System verwendet hätte? Vermutlich nicht.
- Klonoff DC, Wang J, Rodbard D, Kohn MA, Li C, Liepmann D, et al. A Glycemia Risk Index (GRI) of Hypoglycemia and Hyperglycemia for Continuous Glucose Monitoring Validated by Clinician Ratings. J Diabetes Sci Technol. 2022:19322968221085273. Epub 20220329. doi: 10.1177/19322968221085273. PubMed PMID: 35348391.
- Scheideman AF, Shao MM, Yang Y, Klonoff DC, Seley JJ, Ramchandani N, et al. Evaluating the Clinical Utility of the Glycemia Risk Index. Journal of Diabetes Science and Technology. 0(0):19322968251382604. doi: 10.1177/19322968251382604.
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