In den USA sind bereits zwei rezeptfreie CGM-Systeme für Erwachsene ohne Insulintherapie auf dem Markt: Stelo von Dexcom (seit August 2024) und Lingo von Abbott (seit September 2024). Damit haben erstmals auch Menschen mit Prädiabetes oder ohne Diabetes Zugang zu CGM – eine potenziell riesige Nutzergruppe, die jedoch häufig nicht im Umgang mit Glukosedaten geschult ist.
Diana Isaacs betonte, dass der Zugang zu Echtzeit-Glucosedaten vielen Menschen helfen könne – auch jenen ohne manifeste Diabetesdiagnose. Sie verwies auf eine Schätzung der US-Gesundheitsbehörden, nach der rund 98 Millionen Amerikaner an Prädiabetes leiden. Eine frühzeitige Intervention könnte hier präventiv wirken, Isaacs erinnerte an die bekannten UKPDS-Daten, wonach eine frühe intensive Therapie das Risiko für mikrovaskuläre Komplikationen um 25 % senken kann.
Auch bei Schwangerschaftsdiabetes sieht Isaacs Vorteile: Zwar zeigte die aktuelle DipGluMO-Studie keine Unterschiede in den perinatalen Ergebnissen zwischen CGM und konventioneller Blutglukosemessung (BGM), doch viele Teilnehmerinnen äußerten eine klare Präferenz für CGM, die tägliche Belastung mit Glukosekontrollen verringere sich dadurch erheblich.
Zudem könnten CGM-Systeme hilfreich sein, um Lifestyle-Einflüsse auf den Blutzucker besser zu verstehen, etwa durch Ernährung, Bewegung, Stress oder Schlaf. Für Menschen mit einem Frühstadium von Typ-1-Diabetes (T1D) könnten OTC-CGMs sogar helfen, eine Diagnose durch Ketoazidose zu verhindern. So liegt das Risiko, innerhalb von 12 Monaten klinisch manifesten T1D zu entwickeln, bei 80 %, wenn mehr als 10 % der Glucosewerte über 140 mg/dl liegen.
Isaacs räumte zwar ein, dass CGM-Messwerte bei Menschen ohne Diabetes bislang nicht standardisiert sind, sieht jedoch den Hauptnutzen in den Trends und nicht in den absoluten Werten. Die Daten könnten Menschen in die Lage versetzen, unmittelbare Entscheidungen zu treffen, z. B. bei der Ernährung. Die Vorteile, so Isaacs, überwögen die Risiken deutlich. Sie verwies auf die in die Apps integrierten Schulungsinhalte, die neue Nutzer bei der Interpretation der Daten unterstützen. Angesichts der teils eingeschränkten Versorgungslage, etwa fehlender Versicherungsschutz, könnten OTC-CGMs auch für insulinpflichtige Menschen mit Typ-2-Diabetes Zugangshürden abbauen und mehr Sicherheit ermöglichen. In den neuen ADA-Behandlungsstandards wird CGM auch für Menschen mit Typ-2-Diabetes ohne Insulintherapie als Option empfohlen.
David Ahn widersprach entschieden. Er sieht keine ausreichende Evidenz, um CGMs rezeptfrei für eine breite Bevölkerung anzubieten. Vielmehr warnte er vor möglichen Fehlinterpretationen und psychischer Belastung durch permanent verfügbare Daten. Viele Menschen könnten überreagieren, Essverhalten anpassen oder sogar Angst vor völlig normalen Glukoseschwankungen entwickeln.
Besonders kritisch sieht Ahn die uneinheitliche Definition von Glucosespitzen, wie sie z. B. bei Lingo als „Lingo Count“ oder bei Stelo automatisch erkannt werden. In einer von ihm analysierten Situation interpretierte der Sensor eine völlig normale Glucosereaktion fälschlich als „Spike“. Solche irreführenden Anzeigen könnten für Nutzer verunsichernd sein, zumal es keine validierten Zielwerte für Menschen ohne Diabetes gibt.
Auch aus praktischer Sicht äußerte Ahn Bedenken: CGM-Systeme von Abbott und Dexcom seien zuletzt mehrfach von Lieferengpässen und Rückrufen betroffen gewesen, darunter auch wegen Herstellungsproblemen bei Dexcom, die zur Abmahnung durch die FDA führten. Eine zusätzliche Nachfrage durch Menschen ohne Diabetes könnte die Verfügbarkeit für insulinpflichtige Nutzer weiter einschränken – also für jene, die auf exakte Echtzeitdaten angewiesen sind.
Ein weiteres Problem sieht er in der Interpretation durch Fachleute selbst. In einer Studie mit DiabetologInnen herrschte selbst bei standardisierten „Ambulatory Glucose Profiles“ (AGP) von Menschen ohne Diabetes keine Einigkeit darüber, ob Nachuntersuchungen notwendig seien. Bei zehn Datensätzen gab es nur in einem Fall eine übereinstimmende Empfehlung. Ahn folgerte, dass auch unter Fachleuten noch erhebliche Unsicherheit im Umgang mit CGM-Daten bei gesunden Personen besteht.
Darüber hinaus kritisierte er die technische Ungenauigkeit der CGM-Systeme in bestimmten Situationen: Selbst bei identischen Mahlzeiten zeigten CGMs bei derselben Person inkonsistente postprandiale Verläufe. Auch dies könne Nutzer verwirren und zu Fehlinterpretationen führen.
Fazit: Die Diskussion zeigt: CGM-Systeme sind längst mehr als nur ein Hilfsmittel für Menschen mit insulinpflichtigem Diabetes. Sie entwickeln sich zu einem Lifestyle-Tool – mit Potenzial, aber auch mit Risiken. Ob der rezeptfreie Zugang ein Fortschritt oder ein Rückschritt ist, hängt nicht nur von der Technologie ab, sondern auch von der Frage: Wie gut können Nutzer mit der permanenten Datenfülle umgehen? Und wie weit darf Selbstoptimierung gehen, bevor sie zur Belastung wird?
Unsere LeserInnen mögen sich selbst seine Meinung bilden, wofür und wie CGM-Systeme eingesetzt werden, in Deutschland hat es zu unserer Kenntnis noch keine solche Pro-Con-Diskussion gegeben.
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