Hajo Mühlen und Lutz Heinemann
Damit Anträge auf die Bewilligung von Hilfsmitteln positiv beschieden werden, gilt es in den meisten Fällen ein individuelles Gutachten zu erstellen, und zwar: Erstversorgungsgutachten, Folgeversorgungsgutachten und vorzeitige Umversorgungsgutachten. Dass es auch anders geht, zeigen einige Krankenkassen, da ihnen sowohl bei Erst- wie auch bei Folgeverordnung ein Rezept mit Angabe der Diagnose reicht. Das hängt wohl von den Vertragsverhandlungen bzw. Verträgen zwischen den Herstellern und den Krankenkassen ab, da diese organisatorische Vereinfachung für alle Parteien Vorteile hat. Nahezu keine Krankenkasse verlangt bei der Verordnung eines Freestyle Libre noch ein Gutachten. Das gesamte Antragswesen für Hilfsmittel wird allerdings bei den Krankenkassen sehr unterschiedlich gehandhabt.
Das Schreiben von Gutachten stellt einen erheblichen zeitlichen Aufwand dar und ist nicht immer erfolgreich. Die Nutzung der von den Firmen bereitgestellten Formblättern zum Ankreuzen ist fast der Garant für eine Ablehnung, da in der Regel individuelle Gutachten verlangt werden. Ein Individualgutachten kann locker drei Seiten haben plus Ausdruck einer Therapiedokumentation über drei Monate plus Ausdruck aller HbA1c-Werte. Auch bei einem gut gepflegten Qualitätsmanagement bedeutet dies einen Aufwand von ca. 30 Minuten pro Gutachten. Dabei erfolgt das Schreiben der Gutachten (fast) ohne Vergütung, es gibt eine „kleine“ EBM-Ziffer für die Beantwortung eines CGM-Anschreibens (knapp 5 Euro). Hier sind die Facharztvertreter in den Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) gefordert dies zu besprechen und besser zu verhandeln.
Bei der Bewilligung von Hilfsmitteln gibt es Unterschiede zwischen Gutachten für Kinder und solche für Erwachsene. In vielen Fällen gilt es ein Widerspruchsgutachten zu schreiben, dies dauert dann erneut bis zu 1 Stunde pro Gutachten. Spätestens im Widerspruchsverfahren werden die meisten Fälle dann doch bewilligt. Die Arbeitszeit, die dafür nötig war und die diversen Telefonate, die keiner mitbekommt… Diese Arbeit macht man nur, wenn der Erfolg mit den neuen Therapieoptionen den Aufwand rechtfertigt. Solche systematischen Webfehler sollten sich eigentlich doch besprechen und ausräumen lassen?
In diesem Zusammenhang besonders problematisch ist das Thema „Umversorgung“, d.h. ein Wechsel des CGM- oder AID-Systems (z.B. von der 670G zur 780G). Hier erleichtern die Marketingaktivitäten der Hersteller das Leben auch nicht, so werden z.B. durch TV-Werbung Erwartungshaltungen geweckt, die in der praktischen Umsetzung Probleme machen. Aber auch bei den Herstellern sind Marketing und Vertragsverhandler unterschiedliche Personen. Insbesondere bei einem Umversorgungsantrag vor Ablauf der Garantiezeit von 4 Jahren ist die „Ablehnungsgarantie“ hoch, denn bei diesem Thema sind die Krankenkassen ausgesprochen strikt. Dies ist wohl auch eine Frage der Verträge: Gibt es eine Jahrespauschale für das Hilfsmittel oder wird die gesamte Summe für dessen Anschaffung einmalig fällig? Für die Krankenkassen macht das einen erheblichen Unterschied.
Insgesamt gibt es zum Aufwand für das Schreiben von Gutachten keine Daten. Viele Krankenkassen bestehen darauf, dass das Jahresrezept „abgearbeitet“ wird und die Firmen achten darauf, möglichst in einem Schwung einen Jahresbedarf zu liefen, so dass man die ausgelieferte Ware nutzen muss. Eine Rückgabe der Medizinprodukte ist aufgrund von Hygiene- und Sicherheitsaspekte in der Regel nicht möglich. Wenn ein Rezept für eine Drei-Monatsversorgung ausgestellt wird, weil in vier Monaten ein Therapiewechsel zu einem anderen CGM-System ansteht, dann machen die Krankenkassen daraus eine Jahresversorgung, auch wenn dies nicht so rezeptiert wurde. Dies liegt wohl wiederum daran, welche Verträge die Krankenkassen und die Hersteller abgeschlossen haben: Quartalsbezug, Halbjahresbezug oder Jahresbezug. Zudem muss sich jedes Team fragen, wie viele verschiedene AID-Systeme und Pumpen ohne Sensoranbindung sie denn ihren Patienten wirklich anbieten können. Immerhin sollte das Team jedes Produkt gut kennen und beherrschen.
Klar generieren Medizinprodukte erhebliche Kosten, andererseits ist die technische Weiterentwicklung bei den Medizinprodukten (dies gilt insbesondere für AID-Systeme) so rasch, dass es medizinisch und ethisch schwierig ist, eine Pumpe, die bereits x Jahre alt ist, einfach weiter zu verwenden, denn sie generieren vielfach technische Probleme.
Bei einigen Krankenkassen bearbeitet ein Sachbearbeiter Anfragen zu Insulinpumpen und CGM-Systemen, bei anderen sind diese Genehmigungen in getrennten Abteilungen einzuholen. Dies kann Probleme machen, wenn ein Patient mit einer ICT und CGM-System auf ein AID-System wechseln möchte. Die Insulinpumpe wird genehmigt, das dazugehörige CGM-System aber nicht.
Die sich ständig erweiternde Palette von Medizinprodukten stellt nicht nur für die Diabetes-Teams ein Problem dar, sie überfordert auch die Fachabteilungen in den Krankenkassen. Beim Medizinischen Dienst (MD) sitzen Fachärzte (die im Regelfall kein Diabetologe sind), die die Glucoseprofile der Patienten und die Gutachten bewerten und nach nicht transparenten Kriterien entweder ablehnen, teilweise ablehnen, teilweise zustimmen oder zustimmen. Die sozialmedizinischen Stellungnahmen (=Gutachten des MD) erhalten die Krankenkassen, aber nicht der Diabetologe, wohl aus datenschutzrechtlichen Gründen. Allerdings kann der Patient die Stellungnahme anfordern. Die Krankenkassen richten sich im Regelfall nach der Stellungnahme. Ist dieses (aus medizinischer Sicht) sachlich falsch, wird ein Widerspruchsgutachten geschrieben welches dann wieder zum MD geht.
Jahresrezepte bzw. die Laufzeiten von Pumpenverordnung stehen konträr zur rasanten Entwicklung der Technik. Sie verhindern in einem gewissen Ausmaß die Möglichkeit einer optimalen und individualisierten Versorgung. Der „Leidensdruck“ der Kollegen hierbei ist vermutlich recht unterschiedlich, je nachdem wie gut die Praxis organisiert ist. Vermutlich spiegelt sich bei der Bearbeitung der Gutachten durch die Krankenkasse auch deren Heterogenität in der Organisation wider, je nach MD und Sachbearbeiter bei der jeweiligen Krankenkasse ist die Bearbeitung und die Anforderung an die Güte der Gutachten recht unterschiedlich. Vielleicht wäre eine systematische Erfassung des Aufwandes / Erfolges von Gutachten ein Ansatz, um dieses Thema besser zu verstehen.
Man fragt sich auch, wo bleiben eigentlich die Betroffenen? Warum wird der Patient nicht angehalten sich bei seiner Krankenkasse zu erkundigen, wann und wie eine Umversorgung möglich ist? Wenn wir uns ein neues Auto kaufen, erkundige wir uns ja auch nach der Technik, der Lieferfähigkeit, den Finanzierungsmöglichkeiten etc. Bei den Gesetzlichen Krankenkassen ist unser Verhalte anders, weil wir nicht direkt selbst bezahlen. Im Sinne des Empowerments bzw. der Verantwortungsübernahme durch den Nutzer, wäre das ein Schritt in die richtige Richtung, oder?
Fazit: Insgesamt ist dies ein komplexes Thema im Gesundheitszirkus. Jede Krankenkasse in jedem KV-Bezirk kocht ihr eigenes Süppchen und der MD hat wieder ganz eigene Ansichten. Die Krankenkassen reagieren mit einer Anpassung ihrer Organisation und SOPs erst bei einem entsprechenden Antragvolumen. Ergebnisoffene partnerschaftliche Gespräche zwischen den Diabetologen und den Mitarbeitern der Krankenkassen und des MD im Sinne einer optimalen Versorgung der Patienten wären sehr wünschenswert, denn viele Herausforderungen lassen sich doch auch im Gespräch mit den beteiligten Menschen vor Ort gut lösen.
DiaTec weekly – Juni 17, 22
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Mit freundlichen Grüßen
Lieber Herr Mühlen, lieber Lutz: vielen Dank.
Hier beschrieben ist eines der Hauptprobleme in der Neu- oder Umversorgung im Alltag: die Laufzeiten der Hilfsmittelgewährung. Selbst wenn wir als Verordnende in Kenntnis der Laufzeiten nur einen Quaralsbedarf z.B. einen nicht-integrativen Sensors in Planung eines AID-Systems verordnen, setzt sich die Kasse darüber hinweg. Hier werden die Interessen der Betroffenen aber auch die medizinischen Indikationen, denn diese werden ja durch eine begrenzte Verodnung bekundet, ganz klar ignoriert. Auch schriftliche Hinweise auf einen gewünschten Versorgungswechsel helfen nur bedingt. Bei engen zeitlichen Fristen mussten wir Familein schon raten, vom Hersteller gesendete Pakete mit Versorgungsmaterial von der Post nicht anzunehmen. Allerdings werden diese ja auch oft nur abgestellt. Die Mühen im Alltag sind ja gut beschrieben. Es ist mir von der Seele geschrieben, lässt aber trotzdem ratlos zurück.
LG